Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
es sichtlich, von uns wie in alten Zeiten aufgenommen zu werden. Äußerer Anlaß war eine Herzuntersuchung in Bremen, bei der er volle vier Stunden hat warten müssen. Er hat den«Sirius»gelesen (wie er betonte). Ihn wunderte, daß ich mich so konservativ geäußert hätte, er hatte mich für«links»gehalten, und das, obwohl wir uns doch Jahrzehnte kennen. In Bautzen war er eher links gewesen. Aber was macht das schon groß aus, wir haben alle unsere Erfahrungen hinter uns.
Abendessen also im großen Kreis mit KF und Kirsten Wiencke, die mir sehr schön hilft und dieses schreibt.
Mit der Endfassung des«Echolot», dem zweiten Durchgang des Januar, besser gesagt, bin ich nun bis zum 6. Januar vorgedrungen, schaffe, wenn es gutgeht, drei Tage pro Tag. Bis zum 1. Juni – wie versprochen – werde ich aber nicht fertig werden, das läßt sich ja leicht ausrechnen. Probleme habe ich mit den Fotos, die Variationsbreite ist nicht sehr groß. Hin und wieder glückt es, eine groteske Wirkung zu erzielen, ob das die Leser merken, ist fraglich.
Je umfangreicher die Sammlung wird, desto deutlicher klaffen die Lücken. Die Stücke aus Marbach werfen natürlich die Frage auf: Wenn so viele Schriftsteller ins«Echolot»aufgenommen werden, wo bleiben dann die Musiker und Maler? Wirtschaftler habe ich so gut wie gar keine und Mariner auch nicht. Die Wirtschaftsmenschen haben naturgemäß kein Tagebuch geschrieben. Aber ich denke, daß sich diese Lücken noch im nächsten Jahr schließen lassen.
Die Natur grünt und blüht, leider wird mir der Ausblick aus dem Fenster durch ein Huhn vergällt, das aus inneren Gründen wie eine Ente zu watscheln gezwungen ist. Hildegard meint, es hat eine Geschwulst. Man gibt ihm eine Gnadenfrist, die es zum Humpeln nutzt.
Nartum Sa 25. Mai 1991
I950: Wilhelm Pieck eröffnet die Pionierrepublik
«Ernst Thälmann»in der Berliner Wuhlheide
KF ist immer noch hier, er hat eine Panne und kann daher nicht, wie er es vorhatte, nach Hull fahren, bei Wildeshausen mußte er umkehren. Er putzt seine Schuhe, wobei ich ihm mit einem gewissen Wohlbehagen zusehe.
Gestern abend hatte er unsere Satellitenprogramme durchgecheckt, ich konnte durch das Küchenfenster beobachten, daß er sich die Catcher angesehen hat sowie«Tutti Frutti». Beides langweilt mich, die Catcher sind eine Art Schwergewichtsballett, sie haben alles abgesprochen. Und die Sendung«Tutti Frutti»ist so unerotisch wie nur irgendwas. Seitdem die Lange von rechts außen nicht mehr dabei ist – absolut uninteressant.
Die Natur grünt und blüht immer noch. Hildegard war gestern auf einer Bauernhochzeit, was heute ihren totalen Zusammenbruch verursacht hat.
Haben wir denn alles falsch gemacht? fragen die Leute aus der DDR. Antwort: Leider ja.
Gestern nachmittag kam eine mokante Frau mit Bobby, ihrer elfjährigen Zahnspangen-Tochter, der Dichterin des Wolf-Romans, den sie mir Gott sei Dank nicht vorlas. Um sie loszuwerden, zeigte ich das Haus, und als sie eben gehen wollten, kam eine Bremer Familie hereingeprallt, die mir schöne Fotos und Briefe brachte. Allgemeines Hingesetze, zum zweitenmal Kaffee gemacht und zugesehen, wie sie die letzten Reste von Hildegards Wunderkuchen auffraßen. Nach drei Stunden kehrte Ruhe ein.
Für die drei Hunde ist eine Türklappe angeschafft worden; Lieschen hat’s als erste kapiert, das heißt, sie springt durch das offengehaltene Loch hindurch. Die Klappe selbst öffnen kann sie noch nicht.
In der Post ein freundlicher Raddatz-Brief. In«Christ und Welt»eine Rezension des«Sirius».
Je öfter ich mir die Zähne putze, desto widerlicher der Geschmack im Mund. Fühle mich ungepflegt und verlottert. Aber um mich zu baden, bin ich zu faul. Wieso die Menschheit noch keine bequemeren Badewannen erfunden hat, ist mir ein Rätsel.
2007: Inzwischen gibt es in Hotels Whirlpools und Wellness-Bereiche, wo man massiert und gepudert wird und dazu Fruchtcocktails zu trinken bekommt. Als Herr im Frack begegnet man diesen Leuten in Bademantel und Sandalen gelegentlich im Lift. Manche dampfen noch.
Das Grässe-Gemälde erfährt hier aggressive Ablehnung: Ich habe es mit nach oben genommen und warte mit der Bezahlung darauf, daß der Dollar fällt. Gestern ist er um 2 Pfennig gefallen. Das macht immerhin 150 DM aus. Ich spekuliere also zum ersten Mal in meinem Leben auf Baisse.
Eben rief Renate an, sie hat drei Tage umsonst gedreht, weil Kamera defekt. 3000 DM Schaden.
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