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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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um den Traumgott herausfallen zu
lassen.
    Hinter Simeon hielten zwei Engel einen Brokatvorhang; der Heilige
stand in einem säulen- und bogengesättigten Raum reinster
Fantasiearchitektur, die als Rahmen bis zum Bildvordergrund wucherte.
Wir untersuchten jede einzelne Arabeske, jede florale Verzierung, ja
sogar den dunklen Grund des Vorhangs und den goldenen Heiligenschein,
aber nirgendwo entdeckten wir etwas, das auch nur im Entferntesten
der Götterdarstellung ähnelte, die Camerarius in seinem Enchiridion beschrieben hatte. Die Hoffnung, welche der
Anblick dieses Glasbildes zunächst genährt hatte,
zerstob.
    Schließlich traten wir einen Schritt zurück. Ich sagte
entmutigt: »Entweder ist es ebenfalls die falsche Scheibe, oder
wir haben nicht richtig kombiniert.«
    Lisa nickte. Einen Augenblick lang legte sie die Stirn in Falten,
dann meinte sie: »Es war sowieso ziemlich unwahrscheinlich, dass
sich die Darstellung gerade auf einem dieser beiden Fenster befindet.
Vermutlich kämen wir in London weiter.«
    »Vielleicht weiß der Pförtner oder einer der
anderen Mönche mehr?«, gab ich zu bedenken.
    »Es ist einen Versuch wert«, stimmte Lisa zu. Wir warfen
einen letzten Blick in den stillen Kreuzgang und gingen zurück
zur Klosterpforte.
     
    * * *
     
    »Na, hat es Ihnen gefallen?«, fragte der Pater
Pförtner und faltete die fleischigen Hände auf seinem
kleinen Schreibtisch hinter der Glasscheibe.
    »Hervorragend«, sagte Lisa, »das Simeonfenster ist
eine ganz außergewöhnliche Renaissance-Arbeit, aber auch
das kleinere Fragment ist wunderschön. Eine Schande, dass die
anderen Fenster nicht mehr hier sind. Ich wüsste gern, welches
ikonografische Programm sie haben.«
    Welches ikonografische Programm! Meine Güte, meine
Begleiterin verstand sich auszudrücken. Ich fürchte, ich
sah sehr blass neben ihr aus.
    Der Pförtner schmunzelte, dann sagte er: »Um das
herauszufinden, müssen Sie nicht unbedingt nach London fahren,
obwohl nichts über die unmittelbare Betrachtung dieser
Kunstwerke geht.«
    »Gibt es denn Literatur über die Fenster?«, fragte
ich, weil ich endlich auch einmal etwas Intelligentes sagen
wollte.
    »Aber natürlich!« Der Mönch setzte sich ganz
gerade. »Eine Menge sogar. Ich erzähle Ihnen gern etwas
über die Fenster, wenn Sie wollen.« Er lächelte und
senkte den Kopf ein wenig. »Sie sind nämlich mein
Steckenpferd«, sagte er.
    »Ich kann Ihnen sogar Literatur aus unserer Bibliothek holen.
Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden und dorthin setzen
wollen…« Er wies auf eine schlichte Sitzgruppe im hinteren
Teil des Eingangsbereiches. »Ich bin sofort wieder da.« Er
verließ die Loge rasch und ließ die Tür offen
stehen. Sein schwarzer Schatten war erstaunlich behände.
    Einige Minuten später kam er zurück und fragte uns, ob
jemand ihn in der Zwischenzeit habe sprechen wollen. Wir
schüttelten gleichzeitig den Kopf. »Gut«, sagte er
erleichtert, während er die Bücher und Broschüren, die
er mitgebracht hatte, auf dem Kiefertisch ablegte. »Unser Prior
ist nämlich manchmal recht genau, was die Einhaltung der
Pflichten angeht, und eigentlich darf ich mich nicht von der Pforte
entfernen. Aber in so einem Fall…« Er setzte sich schwer,
nachdem er seine schwarze Kutte gerafft hatte. Das weiße
Cingulum hing schlaff an seiner Seite herab. Aus der Nähe
erinnerte es mich an einen Galgenstrick. »Es kommt so selten
vor, dass sich wirklich jemand für diese Fenster
interessiert.« Eifrig gab er uns das erste Buch: eine in rote
Pappe gebundene Monografie über die Steinfelder Fenster aus dem
Jahre 1955. Sofort begann er über die Entstehungsgeschichte der
Fenster zu erzählen. Einiges wussten wir ja schon, aber wir
erfuhren nun noch viele weitere Details, die jedoch für die
Lösung unseres ureigenen Problems nicht dienlich waren.
    Schließlich stieß mir Lisa, die links neben mir
saß, den Ellbogen in die Rippen. »Schau her!«,
zischelte sie und hielt mir eine bunte Broschüre vor, in der
alle Fenster in Farbe abgebildet waren. Sie hatte das Heftchen bei
einer Abbildung aufgeschlagen, die den Engelsturz darstellte. Ich sah
hin – und stutzte. Dann nahm ich das Heft auf und hielt es dicht
vor meine Nase.
    Da war es.
    Wir hatten es gefunden.
    Die obere Hälfte der Abbildung war von kostbar gekleideten
Engeln bevölkert, die mit langen Lanzen und Speeren auf
Dämonen einstachen, welche sich unter ihnen befanden und bereits
aus dem Himmel auf eine nur angedeutete Erde

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