Somniferus
Mosel und die
an sie grenzenden Gebiete in 483 Hexametern. Wenn man den Fluss, den
Sie, junger Mann, auch auf diesem Fenster bemerkt haben, wirklich als
Mosel und nicht als Styx deutet, erhält die Bezugnahme auf
Ausonius ihren Sinn.«
»Aber was hat Ausonius mit diesem seltsamen Ungeheuer zu tun?
Wo ist da der Zusammenhang?«
Der Geistliche seufzte auf und spielte kurz an seinem Cingulum;
dann ließ er es wieder fallen. »Genau das ist das
Problem«, gab er zu. »Ich weiß es nicht. Glauben Sie
mir, ich habe die Mosella viele Male gelesen – es ist ein
sehr schönes und erbauliches Büchlein, aber nirgendwo habe
ich einen Hinweis auf diese Gestalt gefunden. Ich habe allerdings
einen Verdacht.« Er senkte die Stimme. »Das Kloster
Steinfeld hatte vor der Säkularisation eine weithin
berühmte Bibliothek und aus alten Verzeichnissen weiß ich,
dass darunter auch eine Abschrift der Mosella war. Sie stammte
aus dem 12. Jahrhundert. Im Katalog steht neben der Nennung dieser
Ausgabe ein ›corrp.‹, was soviel wie ›corruptus‹
bedeutet – der Text wich also von den anderen, den
›offiziellen‹ Handschriften und vor allem von den
späteren gedruckten Ausgaben ab. Und ich frage mich schon seit
vielen Jahren, worin diese Abweichungen bestanden haben mögen.
Vielleicht käme man durch sie der Bedeutung der seltsamen
Gestalt auf der Höllensturz-Scheibe näher.«
»Wo befindet sich diese Handschrift denn jetzt?«
»Wenn ich das wüsste, junger Mann, würde ich Himmel
und Hölle in Bewegung setzen, um an sie heranzukommen, das
können Sie mir glauben.« Entschuldigend fügte er
hinzu: »Diese Sache ist eben ein Steckenpferd von mir. Wenn man
älter wird, wird man sonderlich und Kleinigkeiten erheben sich
in den Rang von Welt bewegenden Wichtigkeiten. Das werden Sie beide
auch noch erfahren.«
»Gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, wo sich diese
Handschrift befinden könnte?«, fragte ich.
»Nicht den geringsten. Aber ich habe natürlich auch
nicht die Möglichkeiten, die Sie haben…« Der Pater
lächelte schwach.
»Wieso befindet sich eigentlich nur in diesem Fenster ein
Hinweis auf die Mosella des Ausonius?« wollte Lisa
wissen.
Der Pater zuckte die Schultern. »Ich habe nicht die leiseste
Ahnung. Ich vermute, dass der Schöpfer der Fenster, Gerhard
Remsich, die Handschrift kannte und daraus diese Anregung gezogen
hat. Es ist bekannt, dass er in seine Arbeiten einige literarische
Anspielungen einfließen ließ. So findet sich in einem
anderen unserer Kreuzgangfenster ein Hinweis auf Dante und wieder in
einem anderen eine Gestalt, die auf Ovid und seine Metamorphosen Bezug nimmt. Von beiden Werken besaß dieses Kloster
wundervolle illuminierte Handschriften. Eine davon befindet sich
inzwischen in einer amerikanischen Bibliothek.«
»Woher weiß man das?«, fragte Lisa sofort
nach.
»Es gibt eine Forschungsarbeit, die sich mit dem Verbleib der
Steinfelder Handschriften beschäftigt. Der Band steht ebenfalls
in unserer Bibliothek. Ich kann Ihnen aber versichern, dass die
Ausonius-Handschrift nicht darin verzeichnet ist. Es gibt nur zwei
Möglichkeiten: Entweder ist sie inzwischen vernichtet oder sie
befindet sich in Privatbesitz. In beiden Fällen muss ich sie
leider als unzugänglich bezeichnen.«
Zwei ältere Damen betraten das Foyer, sahen sich kurz um und
stellten sich dann demonstrativ vor der Glasscheibe der unbesetzten
Pförtnerloge auf. Seit meinem Erlebnis in dem Dauner Café
waren mir ältere Damen suspekt geworden. Ich warf ihnen einen
dunklen Blick zu, aber sie beachteten mich nicht. Zum Glück.
Der Mönch drehte sich kurz um und stand sofort auf. Er
sammelte die Bücher und Broschüren auf dem Tisch ein,
klemmte sie sich unter den linken Arm und hielt uns die Rechte hin.
»Ich muss jetzt leider wieder in meine Loge zurück, sonst
könnte es Ärger geben«, sagte er leise. Und:
»Falls Sie etwas über den Verbleib der Handschrift erfahren
sollten, würden Sie es mich dann wissen lassen?«
Wir versprachen es und verabschiedeten uns von ihm. Als wir wieder
draußen standen, begann es heftig zu regnen. Wir liefen so
schnell wie möglich zu dem kleinen Lancia, der auf dem Parkplatz
vor dem Kloster stand.
Als wir bereits halb durchnässt die Türen aufrissen und
uns in das enge Innere quetschten, packte mich Lisa plötzlich am
Arm. Ich sah sie verwundert an. Sie deutete mit einer knappen
Kopfbewegung auf die Straße.
Ein Polizeiwagen fuhr gerade durch das Tor der Klostermauer in den
inneren Bezirk.
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