Somniferus
vereinzelten Kerzen warfen ihren flackernden
Schatten wie einen Berg an die Wand. Ein Schatten, der entfernt
menschlich zu sein schien, dessen Kopf aber in einem schwarzen Ballen
von unregelmäßigen Umrissen verschwand.
Lisa ließ den Ärmel meiner Windjacke los und blickte
mich belustigt an. »Was ist denn mit dir los? Hast du Angst vor
einem Mönch?«
Einem Mönch? Ich rieb mir die Augen. Der Schatten war noch
immer da, unverändert. Aber die Gestalt, die ihn warf, machte
unter meinem Blick eine merkwürdige Metamorphose durch. Sie
schrumpfte und die Schwärze fiel von ihr ab. Jetzt erkannte ich,
dass es ein Mann in einer schwarzen Kutte und mit einem weißen
Cingulum war, das wie eine tote Schlange an ihm herabhing. Er
führte einen Schrubber und das Poltern war nichts anderes
gewesen als das gelegentliche Anschlagen des Schrubbers an einen
blechernen Eimer, der neben ihm auf dem Boden stand. Bevor ich noch
eine Entscheidung treffen konnte, hatte sich Lisa bereits vor den
Mönch gestellt, begrüßte ihn freundlich und stellte
ihm eine Frage. Er hörte mit seiner Arbeit auf, stützte
sich auf seinen Schrubber und sagte etwas zu Lisa, das ich nicht
verstehen konnte. Ich lief zu ihm hin und stellte mich neben ihn. Ich
bekam noch einige seiner Worte mit.
»… nicht von hier aus. Sie können aber an der
Pforte nachfragen.« Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.
Sein Schatten an der Wand des Seitenschiffs war nun vollkommen
normal.
Ich sah Lisa fragend an. Sie nickte in die Richtung des Ausgangs
und flüsterte mir zu: »Zur Pforte.«
* * *
Ich war froh, als ich wieder in der lauen Luft des
Frühlingsmorgens stand. Allerdings hatte sich der Himmel
verdunkelt; immer mehr fette, graue Wolken krochen heran –
Wolken wie jene, die den Kopf des Somniferus verhüllen
sollten.
Wir fanden die Pförtnerloge schnell. Ein Mönch saß
hinter einer Glasscheibe; es wirkte wie der Informationsschalter
einer Behörde. Der Mönch blinzelte uns freundlich hinter
seinen dicken Brillengläsern an. »Wollen Sie die
Glasfenster sehen?«, fragte er uns, bevor wir etwas sagen
konnten. Wir nickten gleichzeitig. »Die meisten Leute kommen
hierher an die Pforte, um die Fenster zu sehen. Die wenigsten wollen
etwas anderes von uns«, sagte er. Seine Stimme klang
gedämpft, wie durch einen Traum hindurch tropfte sie aus dem
kleinen, kreisrunden Loch in der Scheibe.
»Die Fenster?«, fragte ich verblüfft.
»Gibt es denn mehrere?«
»1998 ist eine weitere Scheibe nach Steinfeld
zurückgekehrt«, erklärte der Mönch stolz.
»Sie stammt aus East Bitney in Norfolk und wurde dort erst 1985
entdeckt. Wir sind sehr glücklich darüber, dass man sie uns
zum Geschenk gemacht hat, auch wenn sie nicht annähernd so
interessant wie die Scheibe ist, die wir schon vorher hatten. Der
Bärtige wird sie genannt.« Er lächelte und hob die
Hand. »Gehen Sie durch die Tür rechts neben Ihnen; dann
stehen Sie bereits im Kreuzgang. Die Fenster können Sie nicht
verfehlen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der
Betrachtung.« Er lächelte noch immer.
Wir bedankten uns bei ihm und öffneten die Tür, auf die
er gezeigt hatte. Schon standen wir in dem hellen, verglasten
Kreuzgang, durch den ein leichter Kochdunst zog.
Als Erstes sahen wir uns das neue Fenster an. Es war in einer
modernen Fassung vor eine der klarverglasten Scheiben des Kreuzgangs
gesetzt und recht klein. In der Tat zeigte es einen Bärtigen. So
eingehend wir die Glasmalerei, die offensichtlich nur ein Teil eines
größeren Fensters gewesen war, auch untersuchten,
entdeckten wir an ihr doch nichts, was uns weiterhelfen konnte.
»Auf zum nächsten Fenster«, sagte Lisa mit wenig
Hoffnung in der Stimme. Wir umrundeten eine Biegung des
Kreuzgangs.
Wie goldene und rote Strahlen leuchtete es trotz des immer dunkler
werdenden Himmels in einer der Klarglasscheiben. Das hier war mehr
als nur ein Fensterausschnitt. Was für ein Unterschied zu dem
Fragment, das wir vorhin betrachtet hatten! Mir schlug das Herz bis
zum Halse.
Die Glasmalerei zeigte den heiligen Simeon. Er hielt einen
gläsernen Reliquienschrein mit einem Arm darin. Im Satteldach
des Schreines stand in gotischer Schrift: Hic continetur brachium
S. Simonis Apostoli. Es war bizarr: Der Heilige hielt seine
eigene Reliquie im Arm. Vergangenheit und Zukunft waren miteinander
verschmolzen; die Zeit war aufgehoben. War auch der Abgrund der Zeit
zwischen Somniferus und der heutigen Welt verschwunden? Ich
schüttelte den Kopf, wie
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