Somniferus
Worte ausgesprochen hatte, kam ich mir lächerlich
vor.
»Vermissen?«, fragte sie und warf mir einen
verständnislosen Blick zu. »Im Büro wissen alle
Bescheid. Der Urlaub. Außerdem habe ich noch ein paar
Überstunden abzufeiern.«
Und zu Hause?, hätte ich beinahe gefragt. Ich biss mir auf
die Lippe und seufzte. Lisa warf wieder einen schnellen Blick zu mir
hinüber, sagte aber nichts.
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Die
Landschaft flog an uns vorbei, kleine Dörfer in der Ferne, ein
wattig-blauer Himmel, Raps und Butterblumen, die gelbe Teppiche in
das Grün legten, schwaches Vogelgezwitscher hinter dem Jaulen
des Windes um den Wagen – es hätte beinahe eine
Ausflugsfahrt sein können.
Beinahe.
Vor Blankenheim bogen wir links ab und fuhren über Marmagen
nach Steinfeld. Die trutzige Klosterkirche mit ihrem wehrturmartigen
Westwerk sahen wir schon von weitem vor uns auf der Anhöhe
liegen. Der kleine Lancia nahm widerwillig die starke Steigung und
jaulte seinen Unmut hinaus. Lisa legte den zweiten Gang ein; der
Motor heulte auf, und der Wagen machte einen Schuss nach vorn.
Kurz hinter dem Ortseingang lag an der linken Seite der
Hauptstraße ein kleiner Parkplatz gegenüber dem ummauerten
Klosterbezirk. Lisa stellte den Lancia ab. Wir stiegen aus.
Es war ruhig hier, doch aus einiger Entfernung hörten wir
Kinderlärm wie von einem Schulhof während der großen
Pause. Wir überquerten die Straße und gingen durch das
hohe Portal, das zum Kloster führte. Auf einer Tafel in der
Mauer lasen wir, dass die Gebäude jetzt von den Salvatorianern
bewohnt wurden, die hier auch ein Gymnasium und ein Internat
unterhielten. Die Schulgebäude lagen weiter links, von wo der
Kinderlärm kam. Wir gingen geradeaus und kamen bald durch ein
zweites Tor, hinter dem rechts die Kirche lag.
»Gibt es von der Kirche aus einen Zugang zum
Kreuzgang?«, fragte ich Lisa.
»Vermutlich schon, wie in jedem Kloster. Aber da noch
Mönche hier leben, wird der Kreuzgang zum Klausurbereich
gehören, den wir nicht ohne weiteres betreten
dürfen.«
»Wie sollen wir denn dann das Glasfenster in Augenschein
nehmen?«, fragte ich mit einem Seufzer. Es schien alles immer
problematischer zu werden.
»Vielleicht finden wir jemanden in der Kirche, der uns
weiterhilft«, schlug Lisa vor.
Die moderne Bronzetür im Westwerk, die die Form eines
Tempelvorhangs besaß, ließ sich nicht öffnen; ein
kleines Schild mit einem Pfeil darauf wies nach rechts zu einem
Seiteneingang. Durch eine unscheinbare Holztür betraten wir die
Vorhalle der Kirche.
Es war dunkel hier; meine Augen mussten sich erst an das
Dämmerlicht gewöhnen. Für einen Augenblick blitzte die
Erinnerung an den Stollen unter der Dauner Kirche wieder in mir auf
– und an die seltsamen Geräusche, die ich dort gehört
zu haben glaubte. Dann hielt mir Lisa bereits die Tür zum
Kirchenschiff auf.
Unsere Schritte hallten auf den Steinfliesen des verlassenen
Schiffes. Ein Baldachin aus gemaltem Blumengerank wölbte sich
über uns; barocke Seitenaltäre und ein ebenfalls barocker
Hochaltar glänzten silbern und golden im Licht vereinzelter
Kerzen. In der Mitte des Langschiffes erhob sich eine Tumba. Es war
das Grab des heiligen Hermann Joseph, der 1162 in dieses Kloster
eingetreten und – in einem anderen Kloster – im geradezu
biblischen Alter von neunzig Jahren gestorben war. Wir gingen an dem
Grabmal vorbei bis zu den Stufen des Altars und liefen danach die im
ewigen Dämmer liegenden Seitenschiffe entlang. Niemand war zu
sehen, nirgendwo gab es einen Hinweis auf den Kreuzgang. Der Hall
unserer Schritte drang mir schmerzhaft in die Ohren.
Er war zu einem Poltern geworden, das mir entsetzlich vertraut
vorkam. Ich zuckte zusammen. Lisa sah mich fragend von der Seite an.
Es war ein Poltern, das der Hall monströs verstärkte.
Verwirrt schaute ich mich um. Niemand war zu sehen.
»Hörst du das nicht?«, fragte ich meine
Begleiterin.
»Was?«
»Dieses Poltern. Dieses schreckliche Poltern.«
»Meinst du das Klappern? Ja, das höre ich auch.«
Dann streckte sie plötzlich die Hand aus. »Da
hinten!«
Hinter einer der eckigen romanischen Säulen, nahe beim
Ausgang, stand eine schwarze Gestalt. Sie hielt etwas in der Hand,
das sie hin und her führte. Jetzt polterte es wieder.
Lisa zerrte an meinem Ärmel. »Na los, den wollen wir
fragen.«
»Um Himmels willen!«, entfuhr es mir.
Sie schaute mich mit einem seltsamen Blick an. Ich sah wieder zu
der Gestalt hin. Die
Weitere Kostenlose Bücher