Somniferus
die
Blutkörperchen, die sich in irrsinniger Zirkulation von hier aus
überallhin ergossen und dann wieder hierher
zurückströmten. Ich hatte dieses Gewühl schon immer
gehasst. Vor meinem inneren Auge erschien das Bild meines Hauses in
Manderscheid, erschien meine Bibliothek, erschien ich selbst, wie ich
in einem der bequemen Sessel saß, ein Buch las, eine Flasche
Mosel-Auslese neben mir, während draußen die
Dämmerung langsam und zärtlich die Burgruinen und das Tal
der Lieser umschmiegte. Wie sehr sehnte ich mich dorthin
zurück.
Da! Ein schwerer Karton auf einer zierlichen Schulter; das Gesicht
konnte ich noch nicht sehen. Der Karton wurde abgesetzt, in eine Ecke
des Bahnsteigs gestellt. Lisa zog ihre Jacke aus dem Karton heraus
und richtete sich auf. Dann lief sie auf mich zu.
In diesem Augenblick fuhr die 16 ein. Die Türen glitten unter
einem hydraulischen Quietschen auseinander, spuckten Menschen aus wie
ein löchriger Damm und so rasch wie möglich quetschten wir
uns in das Innere des Zuges.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich Lisa.
Sie nickte. Die Bahn setzte sich in Bewegung. Am Hauptbahnhof
stiegen wir aus. Auch hier waren wir sehr vorsichtig und es gelang
uns, nach kurzer Suche das richtige Gleis zu finden. Wir hatten noch
eine Viertelstunde Zeit, bevor der Zug nach Trier über Wittlich
einfuhr.
»Hast du das auch bemerkt?«, fragte ich Lisa.
»Was soll ich bemerkt haben?«
»Dass da irgendetwas in diesem dunklen Raum war.«
»Da war nichts.« Lisa biss sich auf die Unterlippe und
weigerte sich, mich anzusehen.
»Aber du hast es doch selbst gefühlt. Erinnerst du dich
nicht mehr, wie du geschrien hast?«
Lisa sah noch immer nicht in meine Richtung. »Das war nur ein
nasses Handtuch – oder so etwas.«
»Und der Schatten? Hast du etwa nicht den Schatten bemerkt,
als wir den Raum verlassen haben?«
»Ich habe keinen Schatten gesehen. Und jetzt hör auf mit
diesen Fragen. Worauf willst du eigentlich hinaus?«
Ich verstummte. Sollte ich ihr allen Ernstes von meinen
Befürchtungen erzählen?
Endlich fuhr der Zug nach Trier ein. Wir suchten uns ein leeres
Abteil in dem schlecht besetzten Zug und waren froh, für uns zu
sein. Als der Schaffner kam, kaufte ich für uns zwei Fahrkarten,
die er jedoch erst ausstellte, nachdem er uns eine Weile angesehen
hatte. Dann lehnten wir uns in den bequemen Polstern zurück und
betrachteten die Rheinlandschaft, die hinter den Fenstern
vorüberzog.
* * *
Wittlich selbst besitzt keinen Bahnhof; die Strecke nach Trier
biegt in Koblenz ab und führt an der Mosel entlang, die sie nur
an wenigen Stellen verlässt, wo der Fluss zu gewunden ist und
keine Bahntrasse erlaubt. Einer dieser Abstecher führt nach
Wengerohr, das seit der kommunalen Gebietsreform zu Wittlich
gehört und dessen Bahnhof nun offiziell als Wittlich
Hauptbahnhof geadelt ist. Dort kamen wir etwa zwei Stunden
später an und erwischten noch den Bus nach Wittlich.
Sehr gemischte Gefühle bestürmten mich. Es schien eine
Ewigkeit her zu sein, dass ich zum letzten Mal an diesem Bahnhof
angekommen und den Bus bestiegen hatte, der mich nicht nur bis
Wittlich, sondern weiter nach Daun gebracht hatte. Wie hoffnungsfroh
war ich gewesen. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich
kurze Zeit später als des Mordes Verdächtiger und in
Begleitung einer jungen, schönen Frau am selben Bahnhof ankommen
und auf der Suche nach einer mittelalterlichen Handschrift denselben
Bus besteigen würde, hätte ich ihn für verrückt
erklärt.
Mir war durchaus bewusst, wie gefährlich es war, nach
Wittlich zurückzukehren. Hier kannte sicherlich inzwischen jeder
Polizist mein Konterfei. Aber hier befand sich vielleicht auch jene
Ausonius-Handschrift, von der wir uns weiteren Aufschluss über
diese ganze undurchsichtige Affäre erhofften. »Ist Lauer
ein häufiger Name?«, fragte ich Lisa.
»In manchen Gegenden der Eifel trifft man ihn oft an. Ob er
in Wittlich auch weit verbreitet ist, weiß ich nicht.
Hoffentlich finden wir ein Telefonhäuschen mit einem
Telefonbuch. Das ist ja leider längst nicht mehr die
Regel.«
Wir fuhren bis zum Busbahnhof oberhalb der Wittlicher
Fußgängerzone. Als wir ausstiegen und zum Schlossplatz
gingen, erinnerte ich mich daran, dass ich auf meiner Flucht aus dem
Polizeipräsidium hier vorbeigekommen war. Wir nahmen dieselbe
Telefonzelle, von der aus ich damals – war es wirklich erst
einige Tage her? – den Notar Harder angerufen harte. Zum
Glück befand sich in dieser
Weitere Kostenlose Bücher