Sonder-Edition - drei Romane (Das Mondgeheimnis, Die Gestoßenen, Den Teufel am Hals) (German Edition)
ertrinken drohte. »Hat das Bild einen Namen?«, wollte sie von Ondrej wissen, der soeben die Tür hinter sich zustieß und neben sie trat.
»Ich nenne es Die Illusion und ihre Wahrheit.«
Alena streichelte über das Bild. »Die Blattlaus, die sich von einem Trugbild täuschen ließ.«
»Das passiert den Menschen tagtäglich.«
Sie ging an der Wand entlang und blieb vor einem Gemälde stehen, das eine Greisin bei Kerzenschein zeigte. Sie schaukelte in ihrem Stuhl und strickte an einer Socke. Hinter ihr hoben sich kräftige Hände, bereit, sie zu erwürgen. »Kann es sein, dass du mit deinen Bildern negative Erfahrungen verarbeitest?«
Ondrej lachte und drehte das Radio ab. »Ich wurde noch nicht erwürgt.«
Alena sah zur Decke hoch. »Sehr witzig, der Herr.«
Er betrachtete sie eine Weile. Sie fühlte, wie ihr Kinn kribbelte und die Röte ihr in die Wangen stieg.
»Du hast recht, Alena. Die Bilder symbolisieren so manche Ent-täuschung.«
»Magst du mir davon erzählen?«
»Wenn du mir erzählst, wie es zu der Narbe über deiner Augenbraue kam.«
Alena fasste sich an die Stirn, die Frage war ihr unangenehm, jetzt, eigentlich immer. »Ach das … das ist eine längere Geschichte.«
»Ich hab Zeit.«
»Vielleicht ein anderes Mal.« Sie deutete auf ihre Wanderstiefel, um seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken. »Und mit die-sen Tretern muss ich dir wohl Model stehen?«
»Ein Trugschluss, ohne den du nicht hier wärst.«
Sie runzelte die Stirn.
»Sitzen sie bequem?«
»Naja, geht so.«
Er schulterte den Rucksack und ging zur Tür. »Dann komm. Es geht auf Wanderschaft.«
Im Windschatten von Ondrej schleppte Alena sich einen aufwärts führenden Feldweg hoch. Die Wärme des Tages lag noch in den Baumkronen, strömte aus dem moosbewachsenen Boden und ver¬mischte sich mit dem herben Duft der Wildkräuter.
»Das nennst du wandern?« Sie wischte sich über die Stirn und zerrieb den Schweißfilm an den Fingern. »Das gleicht eher einem Kampf-marsch.«
»So einen Spaziergang finde ich recht passend für unser erstes Treffen.« Da war er wieder, dieser unverschämte Ton, den sie vom Telefon her kannte. Sie wusste noch nicht, ob er sie ärgern oder herausfordern sollte. Wahrscheinlich ärgerte sie sich darüber, dass er sie herausforderte.
Rosa Sonnenlicht tränkte die Wolken purpurn.
Alena konzentrierte sich auf den holprigen Weg, aus dem ab und an verwitterte Steine buckelten. »Wie weit ist es denn noch?«
»Hinter dem Hügel liegt das Ziel.«
Der Weg schlängelte sich an einer schier endlosen mit Tannen bewachsenen Kuppe hinauf. Ungefähr zwei Stunden qualvoller Marsch lagen noch vor ihr, schätzte sie. Es würde Nacht sein, bis sie oben ange-kommen waren. Die Füße taten ihr weh, und ein Kitzeln an den Zehen-spitzen kündigte Blasen an. »Das ist nicht dein Ernst?«
Er holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Rucksack und reichte sie ihr. »Die Mühe lohnt sich.«
»Ganz bestimmt.« Die Ironie musste er heraushören. Sie trank hastig. Doch größer als der Durst war das Bedürfnis nach einem Bett. Nach Ruhe und Entspannung. »Ehrlich gesagt stelle ich mir unter einem ersten Treffen etwas anderes vor.«
Ondrej schenkte ihr einen verständnisvollen Blick und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Wenn du umkehren möchtest, dann kehren wir um. Kein Problem.« Er machte eine kleine Pause, und sie wollte sich schon auf den Rückweg machen, da lächelte er und bemerkte nebenbei: »Aber eines möchte ich dir sagen: Ich hab schon viel erlebt. Vieles davon war weitaus anstrengender als das bisschen Wandern. Und eines lehrte mich die Erfahrung – der Muskelkater ist bald vergessen, was aber bleibt, sind die Eindrücke, die man gewinnt und an die man sich sein Leben lang erinnert.«
Sie verbiss sich eine zynische Bemerkung. »Sollten mich die Eindrücke da oben nicht umhauen, wirst du mich zur Strafe tragen.« Fest drückte sie ihm die Wasserflasche gegen seine Brust. »Geh schon!«
Wohltuende Dunkelheit bedeckte nach und nach das Land. Die letzten Meter leuchtete Ondrej mit einer Taschenlampe aus. Als sie ankamen, hatte die Nacht längst das Tageslicht ausgelöscht und den Blick freigegeben für das, wovon Ondrej überzeugt war, dass es den mühsamen Weg rechtfertigte.
Sie setzten sich auf eine Bank inmitten einer Waldlichtung. Eine Fels-wand stürzte vor ihnen in die Tiefe. Alena löste die Schnürbänder und lehnte sich zurück. Ondrej reichte ihr Wasser und eine Aprikose. Dann
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