Sonderauftrag
das müde Gesicht eines alten Mannes an. Eines Mannes, der vor 50 Jahren einen Mord begangen hatte.
Er kämmte seine dicken, schwarzen Haare, die seit dem Tod seiner Frau immer grauer wurden. Der Gedanke an sie ließ ihn noch melancholischer werden.
Er schlurfte in die Küche. Auf der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine stand die Kanne mit dem heißen Getränk. Er säbelte eine Scheibe Brot ab, nicht ohne vorher mit dem Messer das Kreuz darüber geschlagen zu haben. Nicht, dass er an Gott glaubte, aber Brot war eine heilige Sache.
Im Kühlschrank fand er noch etwas Presskopf. Schließlich nahm er an dem runden Küchentisch Platz, vor sich die Zeitung.
Früher hatte er noch die Bauernzeitung gelesen, doch nach der Wende hatte seine Tochter sie abbestellt: Das Geld könnten sie sparen. Dabei hatte sie das Suchbild in der Zeitung als Kind so gemocht. Kaum war die Schule am Montag aus, da saß sie am Küchentisch vor dem Fenster und drehte und wendete die letzte Seite hin und her, bis sie den versteckten Förster oder seinen Hund oder was es sonst noch zu entdecken gab, gefunden hatte.
Seufzend steckte er ein Stück Brot mit einem Würfel Wurst in den Mund. Er kaute gründlich und spülte mit einem Schluck Kaffee alles runter. Dann schob er sich mit fettigen Fingern die Lesebrille auf die Nase, um die erste Schlagzeile im Regionalteil zu lesen.
›Banküberfall in Prohn‹, lautete die Überschrift. Der Ort lag knapp zehn Kilometer von seinem Geburtsort entfernt, und vor einigen Jahren hatte auch er dort ein Konto besessen, doch mit dem Umzug in die Stadt hatte er gewechselt.
Aufmerksam las er den Artikel. Der Täter war am Freitag kurz vor Schalterschluss in die Geschäftsstelle gekommen, hatte die einzige anwesende Angestellte bedroht und war dann seelenruhig mit über 12.000 Mark geflohen. Vom Täter hatte man nur eine vage Beschreibung, da es keine weiteren Zeugen gab und die Bankangestellte vor Aufregung nichts Konkretes über sein Aussehen hatte sagen können.
Er ließ die Zeitung sinken und schnitt sich noch etwas Brot und Wurst ab. Nachdenklich kaute er. Heutzutage wurden Banken schon am helllichten Tag überfallen. Keiner hatte mehr vor irgendetwas Achtung. Einsperren musste man solche Leute. Er stutzte. Bald würde er mit solchen Verbrechern in einer Zelle sitzen. Er war ein Mörder!
Jahrelang hatte ihn sein Gewissen geplagt. Dann gab es eine Phase, wo er alles von damals verdrängt hatte und kaum einen Gedanken an die einstigen Vorkommnisse verschwendete. Doch seit dem Besuch des Polizisten war alles wieder gegenwärtig.
Das ganze Wochenende hatte er überlegt, was er tun sollte. Er hatte an Selbstmord gedacht, doch die Vorstellung, wie er an einem Baum im Stadtwald hing, ließ ihn Abstand davon nehmen. Die Pulsadern wollte er sich auch nicht aufschneiden, schon der Gedanke daran ließ ihn schaudern. Und Tabletten mochte er nicht.
Irgendwann in der Nacht von Sonnabend zu Sonntag war in ihm der Entschluss gereift, sich der Polizei zu stellen. Für seine Tochter und seine Enkelin würde es sicher ein großer Schock sein: er, der Vater und Großvater, ein Mörder.
Das Wort Mörder ließ ihn frösteln. Hastig aß er den Rest seines Frühstücks. Achtsam wusch er das wenige Geschirr ab. Seit Hilde tot war und er bei seiner Tochter wohnte, hielt er die Küche mit sauber, denn ihr Mann achtete auf Ordnung. Na ja, der war Buchhalter und wahrscheinlich kam daher die Ordnungsliebe.
Mühsam schlurfte er in sein Zimmer zurück, das steife Bein hinterherziehend, und hob seinen alten Koffer vom Kleiderschrank. Staub hatte sich darauf abgesetzt.
Er holte einen feuchten Lappen, wischte den Koffer sauber und packte das Nötigste ein. Beinahe hätte er sein Rasierzeug vergessen. Ärgerlich brummelnd ging er ins Bad, um die wenigen Sachen in den Kulturbeutel zu stopfen. Zum Schluss zog er sich die Filzpantoffeln von den Füßen. Unschlüssig drehte er sie in den Händen. Er wusste nicht, ob er sie im Gefängnis brauchen würde. Nach einem Augenblick des Überlegens steckte er sie in eine Tüte und dann in den Koffer. Obendrauf legte er vorsichtig das Bild von Hilde, das in der linken oberen Ecke mit einem Trauerflor versehen war. Seine Hilde! Wehmut lag in seinem Blick, als er den Koffer schloss.
Hilde hatte immer gewusst, was richtig und was falsch war. Sie kannte sich mit den Menschen aus. Im Gegensatz zu ihm, ihm waren Pferde lieber. Da konnte ihm so schnell keiner etwas vormachen. Hilde hätte bestimmt auch
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