Songkran
Mondes präsentierte sich in einer Linie mit der Spitze des 82 Meter hohen Tempelturms von Wat Arun, als dieses hinter einer Flussbiegung auftauchte. Scheinwerfer beleuchteten die Tausenden von Porzellanplatten, die die Außenwand des Prangs mosaikartig bedecken. Die Farbkomposition erreichte im unteren Teil des Bauwerks einen violetten Ton, der sich in der Höhe vergoldete.
Das Klimpern der Münzen in ihrer zylinderförmigen Metallbüchse zerbrach das Schweigen. Die Büchse wippte im Handgelenk der Fahrkartenverkäuferin. Schnell kramte Gun in seiner Hosentasche und reichte der Frau im gelben T-Shirt einen Zwanzigbahtschein. Sie klappte die Büchse auf, entwertete einen Fahrschein, zählte das Wechselgeld ab und gab Gun beides zurück.
Die Blicke der Touristinnen aus der Khaosan Road wandten sich dem Ostufer zu. Ihre Digitalkameras fingen jetzt die goldenen, spitz zulaufenden Tempeltürme des königlichen Palastes ein, der nahe dem östlichen Ufer steht.
Nach wenigen hundert Metern gerader Streckenführung passierte das Boot die Mündung des Khlong Bangkok Noi. Dann steuerte der Kapitän das nächstgelegene Pier auf der Thonburiseite an. Bis zur Endstation Nonthaburie würde das Boot kein weiteres Pier anlaufen.
Die Krankenschwester verließ ihren Sitzplatz und reihte sich in die Schlange der Passagiere im Mittelgang ein. Routiniert legte das Expressboot an der Anlegestelle an. In wenigen Sekunden leerte sich das Expressboot bis auf ein Viertel. Kurz vor dem Ablegen hörte Gun die Trillerpfeife des Bootsjungen, der dem Kapitän signalisierte, dass er weiterfahren konnte.
„Sind Sie alleine, Inspektor Gun?“, fragte die Tomboy , die einen kleinen Rucksack auf dem Rücken trug.
Gun drehte seinen Kopf zur Seite und blickte in das schöne Gesicht, das er sich seit Tagen eingeprägt hatte. Mit Hilfe von Schminke hatten männliche Charakteristika die femininen Konturen und Linien verdrängt. Die langen, schwarzen Haare waren einem modischen Kurzhaarschnitt gewichen, der unter den Tomboys in Thailand populär war. Strähnen liefen spitz über der Stirn zusammen. Nasen- und Lippenpiercing glänzten auffallend.
„Ist Ihnen jemand gefolgt?“, fragte die junge Frau.
Gun schüttelte den Kopf: „Niemand weiß, dass ich hier bin.“
„Darf ich mich setzen, Inspektor Gun?“
„Natürlich. Ich habe Sie so kaum erkannt“, sagte Gun mit leichtem Zittern in der Stimme.
„Ich vermute, die suchen eine Frau in entsprechender Kleidung und nicht in verwaschenen Schlabberjeans und Sweatshirt“, sagte das Mädchen, nahm ihren Rucksack vom Rücken und setzte sich auf den freien Kunststoffsitz.
„Wie heißen Sie?“, fragte Gun.
„Mein Name ist Toon. Woher hatten Sie mein Foto?“
„Von der Metrostation Hua Lamphong.“
Sie schaute ihn ungläubig an.
„Die Überwachungskameras.“ Gun hielt seinen Zeigefinger leicht kreisend in die Höhe.
„Ihr Vier habt die Polizei von Lumphini unterschätzt“, fuhr er fort.
„Diese Irrfahrt durch Bangkok war nicht meine Idee. Muu dachte, so ne Aktion setzt dem ganzen die Krone auf“, erwiderte das Mädchen lächelnd.
„War das Ihre Idee mit der Bombe?“ Guns Anspannung und Nervosität verflüchtigten sich. „Ich möchte von Ihnen die Wahrheit hören. Wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir die ganze Geschichte erzählen.“
„Können Sie mir helfen? Ich habe Angst.“
Gun schwieg.
„Es war meine Idee, etwas gegen diese Massenprostitution zu unternehmen. Und das ganze war auch ein großes Abenteuer, sehr aufregend.“
„Sie waren sich der Gefahr bewusst?“
„Natürlich, wir dachten halt, wir hätten keine Fehler gemacht.“
„Erklären Sie mir, warum Sie diesen Irrsinn gemacht haben?“
„Wir sind stolz auf die thailändische Kultur...“ Sie schluckte. „...oder waren stolz. Alle sind tot, ich weiß.“
„Alle sind tot“, wiederholte Gun wie ein Echo, das sich mit dem Lärm der Motoren verschmolz.
„Die thailändische Kultur ist wertvoll. Wir müssen Sie erhalten. So wie das wunderschöne Wat Arun. Der zentrale Stupa ist von oben bis unten mit Porzellanplatten belegt. Wussten Sie das?“
Gun nickte.
„Deshalb wird Wat Arun auch Porzellantempel genannt.“
„Kommen Sie auf den Stolz zurück“, unterbrach sie Gun.
„Die thailändische Bevölkerung sollte stolz auf ihre Kultur und Tradition sein.“
„Und ist sie das nicht?“
„Nein, das ist sie nicht! Wir verkaufen alles. Und vor allem verkaufen wir uns.“
„Und mit uns meinen
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