Sonne über Wahi-Koura
Uniform. »Guten Morgen, Mistress de Villiers! Was führt Sie zu uns?«
»Ich möchte mit dem Gefangenen reden, den Sie gestern wegen Mordes verhaftet haben.«
»Den können Sie nicht sprechen, Ma'am.«
»Warum denn nicht? Stellt man ihn gerade vor Gericht?«
»Nein, aber ...«
»Dann lassen Sie mich mit ihm reden«, beharrte Louise. »Oder muss ich warten, bis Ihr Vorgesetzter kommt?«
»Aber der Mann ist ein Mörder«, wandte der Constable ein.
»Sie werden gewiss ausreichend dafür gesorgt haben, dass er nicht entfliehen kann. Ich will nur mit ihm reden und ihn nicht befreien. Ihr Vorgesetzter wird nichts dagegen haben, das garantiere ich Ihnen.«
Der Constable wirkte für einen Moment unschlüssig, doch dann griff er nach den Zellenschlüsseln. »Also gut. Bitte folgen Sie mir!«
Im Zellentrakt roch es nach Schimmel. Von vier Zellen waren zwei besetzt. In einer davon nüchterte offenbar ein Trinker aus. Der mutmaßliche Mörder saß am Ende des Ganges ein.
Dieser elende Dummkopf!, dachte Louise, während sie spürte, dass sich ihr Innerstes zusammenzog. Wusste er nicht, in welche Schwierigkeiten er geraten würde? In welche Schwierigkeiten er uns alle bringen würde?
Der Maori saß mit hängendem Kopf auf einer Pritsche. Seine Hände waren mit Handschellen gefesselt, und um sein rechtes Bein trug er einen Eisenring mit Kette. Er blickte auf, als die Schlüssel im Zellenschloss klirrten.
Joes verquollenes Gesicht und die roten Augen erschreckten Louise zutiefst. Eine Platzwunde an seiner Lippe deutete darauf hin, dass die Polizei bei seiner Verhaftung nicht zimperlich vorgegangen war.
»Können Sie ihm nicht die Handfesseln abnehmen?«, flüsterte Louise dem Constable zu.
Der starrte sie entsetzt an. »Aber Madam!«
»Der Bursche sitzt hinter Gittern! Durch das kleine Loch dort in der Wand wird er wohl kaum verschwinden. Und wenn er zur Tür hinauswill, muss er an Ihnen vorbei. Was also befürchten Sie?«
»Ich kann es trotzdem nicht tun, das bedarf der Zustimmung meines Vorgesetzten. Ich kriege Ärger, wenn ich eigenmächtig handele.«
Das verstand Louise, und sie war auch nicht hier, um mit dem Constable über die Haftbedingungen zu sprechen. Das war die Sache eines Anwalts. »Nun gut, dann lassen Sie ihn so.«
»Mistress de Villiers!«, rief der Gefangene, als er Louise sah. »Was für eine Überraschung!«
»Ich habe gehört, was du angestellt haben sollst, Joe. Was ist dran an den Vorwürfen?«
»Ich ...« Ängstlich blickte er zum Constable.
»Hast du einen Anwalt?«
»Ja. Mister Meedes.«
»Meedes ist ein Winkeladvokat. Das Gericht hat ihn gestellt, nicht wahr?«
»Ja, Ma'am.«
»Ich werde Jonathan Reed Bescheid geben. Er ist der Anwalt meiner Familie und wird dir helfen.«
»Vom Vorwurf des Mordes kann der ihn auch nicht reinwaschen«, murmelte der Constable.
Als Louise ihn scharf ansah, wurde er rot.
»Ich habe kein Geld, um Mister Reed zu bezahlen.«
»Das lass nur meine Sorge sein!«
Louise wandte sich dem Constable zu. »Kann ich einen Moment allein mit ihm sprechen?«
»Aber er hat eine Frau ermordet!«
»Sie haben ihn gefesselt. Glauben Sie wirklich, er kommt mit der Fußkette bis zur Tür und erdrosselt mich mit gefesselten Händen?«
»Tja, ich weiß nicht ...«
»Ich werd's Ihrem Vorgesetzten nicht verraten. Und Sie werden doch bestimmt vor der Tür warten, bereit, mir im Notfall zu Hilfe zu eilen, oder?«
Brummend zog sich der Mann zurück.
»Wie ist es passiert?«, flüsterte Louise, als der Constable verschwunden war.
»Was meinen Sie?«
»Das Mädchen. Hast du es mit Absicht umgebracht? Oder war es ein Unfall?«
Joe senkte den Kopf und zog die Nase hoch. »Ich wollte es nich' ...«
»Du wolltest es nicht. Und warum hast du es dann getan?«
Wieder sah der Bursche zur Tür.
»Du fürchtest, dass der Constable dich hören könnte.«
Joe nickte.
»Dann rede leise. Ich muss wissen, wie es dazu gekommen ist.«
»Ich hatte getrunken. Sehr viel getrunken. Betty wollte mich davon abbringen, sie hat gesagt, es is' nich' gut für mich. Da hab ich mich wohl irgendwie vergessen. Sie is' rausgelaufen und ich hinterher. Irgendwann hab ich sie zu fassen gekriegt ... Mehr weiß ich nich' mehr. Als ich wach wurde, waren die Polizisten da. Und Betty ...« Joe brach in Tränen aus. Sein Oberkörper zuckte, als würde er von unsichtbaren Kräften hin und her gestoßen.
Louise kniff die Lippen zusammen. So ein Narr!, dachte sie. Diese Tat wird nicht nur Konsequenzen
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