Sonne über Wahi-Koura
da sein.«
Als Sarah sich wieder zurückgezogen hatte, blickte Helena zur Seite und entdeckte einen schmalen Band mit dem Titel Entdeckungsfahrten im Pazifik. Die Logbücher der Reisen 1768-1779 von James Cook. Sie erinnerte sich, diesen Namen im Lyzeum gehört zu haben. Captain Cook hatte neben Australien auch Neuseeland entdeckt.
Vorsichtig zog sie das Buch aus dem Regal. Es handelte sich um eine reich illustrierte Ausgabe von 1863, die zudem mit Kartenmaterial versehen war. Beim Durchblättern stieß Helena auch auf eine Karte Neuseelands.
Das ist es, was ich gesucht habe!, dachte sie. Vielleicht berichtet der Captain ja über die Maori.
Helena klappte das Buch wieder zu. Sie freute sich so über ihren Fund, dass sie dem Essen mit Louise lächelnd entgegensah.
Als Helena am Nachmittag über den Hof schlenderte, erhob Louise sich hinter ihrem Schreibtisch und verließ das Arbeitszimmer.
Warum wollte ihre Schwiegertochter unbedingt in die Bibliothek? Diese Frage hatte Louise den gesamten Vormittag nicht losgelassen. Bei ihrem gemeinsamen Mittagessen hatte sich nicht die Gelegenheit ergeben, über Bücher zu plaudern. Dennoch wollte sie zu gern wissen, welche Bücher die junge Frau interessierten.
Wahrscheinlich interessiert sie sich ohnehin nur für leichte Lektüre, sagte sie sich. Etwas Tiefgründiges wird diese Person wohl nicht lesen wollen.
Als sie in den Gang zu Helenas Gemächern einbog, spürte sie einen Anflug von schlechtem Gewissen. Ist es richtig, wenn ich hinter ihr herschnüffle?
Unsinn!, schalt sie sich. Dies ist immer noch mein Haus, und ich kann gehen, wohin ich will.
Dennoch verharrte sie vor Helenas Schlafraum und blickte sich nach allen Seiten um, bevor sie den Türknopf drehte.
Ein leichter Zitronenduft strömte ihr entgegen. Auf dem Bett lag das Kleid, das Helena beim Essen getragen hatte. Die Bücher stapelten sich auf dem Nachttisch. Louise erkannte einige von ihnen schon am Einband.
Bücher über Weinbau?, wunderte sie sich und trat näher.
Ihre Erinnerung täuschte sie nicht. Diese Bücher hatte sie selbst in ihren mittleren Jahren gelesen, um sich weiterzubilden.
Was hat sie vor? Will sie mir die Stellung auf dem Weingut streitig machen?
Widerwille regte sich in Louise. Nie hatte sie jemand anderen über das Weingut bestimmen lassen. Auch ihren Ehegatten hatte sie stets außen vor gehalten.
Ein spöttisches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
John Fellon war ein schwacher, rückgratloser Mann gewesen. Er hatte sich ihr und ihrem Vater komplett unterworfen und sogar den Namen seiner Ehefrau angenommen. Obwohl er sie stets gut behandelt hatte, was so einige Damen der Gesellschaft von Napier von ihren Ehemännern nicht behaupten konnten, hatte sie jedoch nie mehr als Sympathie und Fürsorglichkeit für ihn empfunden. Doch die Trauer, die sie ebenso wie die Witwentracht seit Johns Tod nicht mehr ablegt hatte, galt in Wirklichkeit einem anderen Menschen. Einem Menschen, den sie ebenso wie Laurent geliebt hatte und dessen Tod ihr beinahe das Herz zerrissen hätte.
Louise verdrängte diesen Gedanken und wandte sich wieder dem Bücherstapel zu. Zwischen den Weinbüchern fand sie auch die Reisebeschreibungen von Captain Cook.
Offenbar hat sie den Willen, sich hier einzuleben, dachte sie mit einem Anflug von Genugtuung. Mir soll's recht sein, solange sie nicht versucht, sich in meine Geschäfte einzumischen, dachte sie. Denn das werde ich zu verhindern wissen! Niemand nimmt mir meinen Weinberg!
Als sie Schritte vernahm, legte sie die Bücher wieder so hin, wie sie sie vorgefunden hatte, und verließ das Zimmer.
Z WEITER T EIL
R EBENZEIT
1
F RÜHJAHR 1914
Die stickige Luft im Gerichtssaal von Napier wurde durch die rußenden Petroleumlampen noch schlechter. Sie verbreiteten nur ein spärliches Licht. Auch draußen herrschte beinahe Dunkelheit. Ein Donnergrollen zerriss die Stille im Gerichtssaal.
Trotz des Regenwetters hatten sich zahlreiche Leute eingefunden, um den Prozess zu beobachten. Obwohl weder das Gericht noch der Angeklagte zugegen waren, herrschte bereits eine ungewöhnlich angespannte Atmosphäre.
Louise, die in der letzten Reihe saß, war ebenfalls nervös. Einige Abstinenzler hatten sich unter die Zuschauer gemischt, und auch wenn sie Manson nicht sah, spürte sie doch seine Anwesenheit. Er hat seine Bluthunde geschickt, dachte sie. Ich kann nur hoffen, dass Reed nicht versagt. Sollte ihm der Staatsanwalt die Worte im Mund verdrehen, werde ich entschlossen
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