Sonne über Wahi-Koura
für mein Gut kämpfen.
Um sich abzulenken, blickte Louise auf zum Bildnis von König George V., der seit drei Jahren das Commonwealth regierte. Mit undurchdringlicher, würdevoller Miene blickte er auf die schwitzenden Anwesenden im Saal hinab. Ob es etwas bringen würde, eine Petition an den König zu richten und ihn um Hilfe zu bitten, wenn die Dinge für mich schlecht ausgehen?, fragte sie sich.
Das plötzlich aufbrandende Gemurmel kündigte die Ankunft des Angeklagten an. »Da ist der feige Mörder!«, kreischte eine Frauenstimme. Einige Männer sprangen auf, und bald schallte ein Sprechchor durch den Saal: »Nieder mit der Trunksucht! Hängt den Mistkerl!«
Joe war abgezehrt und blass. Begleitet von vier Polizisten, schlurfte er mit hängendem Kopf zur Anklagebank. Offenbar hatte er das Geständnis nicht aus freien Stücken abgelegt, denn Louise fiel auf, dass seit ihrem Treffen blaue Flecke hinzugekommen waren.
Hinter Joe ging Jonathan Reed. Er trug einen schwarzen Talar und eine weiße Allongeperücke. Seine Miene wirkte angespannt.
Presst er seine Unterlagen so fest an sich, weil er unsicher ist?, fragte Louise sich und zwang sich zur Ruhe. Ihr werdet nicht erleben, dass ich die Contenance verliere, dachte sie trotzig.
Nachdem Joe und sein Verteidiger hinter der Anklagebank Aufstellung genommen hatten, erschienen der Staatsanwalt, die Geschworenen und der Richter.
Das Gemurmel im Saal schwoll so an, dass das Gewittertosen kaum noch zu hören war. Als der Richter die Sitzung eröffnete, faltete Louise die Hände. Papa und Rangi, steht mir bei! Lasst nicht zu, dass sie mir auch noch das Letzte nehmen, was ich besitze, flehte sie insgeheim.
Helena suchte die Regalreihen ab. Wegen des Regens konnte sie keinen Spaziergang durch den Weinberg machen, also hatte sie erneut die Bibliothek aufgesucht. Literatur über die Maori gab es bedauerlicherweise nicht, aber sie hatte weitere Reiseberichte aufgetan, in denen sie neue Informationen vermutete.
Der Spaziergang mit Sarah wirkte in ihr immer noch nach. Hin und wieder träumte sie vom Dorf und den tätowierten Wächtern. Manchmal auch von dem Mädchen mit den Steinen. Bislang hatte sie vergebens nach der Kleinen Ausschau gehalten.
Am Ende eines Regals fiel ihr ein schmaler Band ins Auge. Die Rückenaufschrift auf dem schlichten Einband war fast vollständig abgerieben.
Neugierig zog Helena das Buch hervor. Plötzlich purzelte ihr etwas entgegen. Ein kleiner grüner Gegenstand landete auf dem Teppich. Helena hob ihn auf.
Es war ein zartgrüner Jadeanhänger, der ein Mischwesen zwischen Vogel und Fisch darstellte. Der Kopf war der eines Vogels mit langem Schnabel und langen Schmuckfedern am Hinterkopf. Der gewundene Oberkörper lief in einen Fischschwanz aus. Nachdenklich betrachtete Helena die Figur. Sollte das einer der Maori-Götter sein?
Helena schlug das Buch auf. Einige Wasserflecke verunzierten das Vorsatzblatt. Die nächste Seite gab preis, dass es sich um ein Weinbuch handelte. Eine kurze Abhandlung über den Sauvignon aus dem Jahr 1815. Die Sorte, die hier nicht gedeihen wollte, kam Helena in den Sinn. Neugierig blätterte sie den schmalen Band durch. Abbildungen lockerten den Text auf. In der Mitte gab es vier farbige Tafeln mit Pflanzenteilen des Sauvignon-Rebstocks. Warum steckte der Anhänger gerade in diesem Werk? Er hatte auf den Seiten, zwischen denen er gelegen hatte, einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ob Louise das Schmuckstück als Lesezeichen benutzt und es einfach im Buch vergessen hatte? Helena konnte das Rätsel nicht lösen. Bestimmt hat Louise schon danach gesucht, dachte sie und nahm sich vor, ihrer Schwiegermutter den Anhänger zu zeigen. Vielleicht vermisst sie ihn ja ...
Während der Verhandlung saß Louise gespannt auf ihrem Stuhl. Schweiß lief an ihren Schläfen hinab.
»Mister Aroa war zum Tatzeitpunkt nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, da er getrunken hatte«, argumentierte Reed. »Deshalb plädiere ich, auf Totschlag zu erkennen, denn ein vorsätzlicher Mord war es sicher nicht.«
Der Staatsanwalt erhob sich mit einem süffisanten Lächeln, das Louises Puls beschleunigte. »Ich stimme meinem Kollegen zu. Es ist tatsächlich anzunehmen, dass Mister Aroa die Tat nicht begangen hätte, wenn er nicht die Gelegenheit gehabt hätte, sich zu betrinken. Die Öffentlichkeit sollte die Produktion von Alkohol nicht länger dulden. Die Stadtoberen müssen sich überlegen, ob sie die Trunksucht weiter fördern und damit
Weitere Kostenlose Bücher