Sonne über Wahi-Koura
den Gedanken in einer anderen Welt zu sein.
Nachdem Helena der Verletzten einen Verband angelegt hatte, setzte sie sich wieder neben das Bett.
»Am liebsten hätten sie den Burschen gehängt«, bemerkte Louise nach einer Weile. »Und weil sie ihn nicht kriegen konnten, wollten sie mich umbringen.«
»Haben Sie gesehen, wer Ihnen das angetan hat?«
»Wenn man Mühe hat, auf den Füßen zu bleiben, interessiert man sich nicht für seine Umgebung.« Louise seufzte. Ihre Lider wurden schwer, und sie schlummerte ein.
Zwei Stunden später kehrte Newman mit einem Mann mittleren Alters zurück, dessen braunes Haar bereits schütter wurde. Dicke Brillengläser verkleinerten seine blauen Augen um ein Vielfaches. Obwohl er in seinem braunen Anzug unscheinbar wirkte, strahlte er Kraft und Autorität aus.
Helena erwartete ihn vor der Tür. »Mein Name ist Helena de Villiers, ich bin die Schwiegertochter von Madame.«
Der Arzt musterte sie kurz, bevor er ihr die Hand reichte. »Adam Fraser.«
Helena schilderte ihm, was vorgefallen war, und begleitete ihn ins Zimmer.
Louise hatte die Augen offen. Erst als Dr. Fraser neben sie trat, wandte sie den Kopf. »Schicken Sie sie raus!«, wies Louise den Arzt an.
Fraser schenkte Helena einen bedauernden Blick.
Sie zuckte die Achseln und zog sich wortlos zurück.
Draußen wartete Newman. »Wie geht es ihr?«
»Sie wollte mich bei der Untersuchung nicht dabeihaben.« Helena schaute zur Tür. Die Stimme des Arztes war zu leise, als dass sie etwas verstehen konnte. »Es wird bestimmt nicht lange dauern.«
»Madame scheint Glück im Unglück gehabt zu haben«, bemerkte der Kellermeister. »Die Verwüstungen in der Stadt sind erschreckend. Von den Randalierern war zwar nichts mehr zu sehen, aber sie haben großen Schaden angerichtet.«
»Glauben Sie, dass die Abstinenzler dahinterstecken?«
Newman schüttelte den Kopf. »Nein, da haben einfach nur ein paar verbrecherische Kerle die Gunst der Stunde genutzt. Das Verhältnis zwischen den Weißen und den Maori ist immer noch gespannt. Einige Leute würden den Vertrag von Waitangi am liebsten rückgängig machen.«
»Wie lange besteht der denn schon?«
»Seit 1840. Und so lange gibt es auch schon Bestrebungen, ihn wieder aufzulösen. Der Angeklagte war ein Maori. Er war mit einer Weißen verlobt und hat sie in Trunkenheit erschlagen. Ein gefundenes Fressen für diejenigen, die sich das Land der Maori am liebsten unter den Nagel reißen würden.«
»Meine Schwiegermutter meint, dass man die Wut über das Urteil an ihr ausgelassen hat.«
»Hat sie gesehen, wer sie verletzt hat?«
»Nein.«
Newman ballte die Fäuste. »Wenn Manson dahintersteckt, werde ich ihn aus seinem Anzug schütteln.«
»Das sollten Sie besser lassen, Mister Newman.«
»Sie haben Recht«, lenkte er ein. »Ich ertrage es nur schwer, mit ansehen zu müssen, wie jemand versucht, unsere Arbeit zunichtezumachen. Wahrscheinlich sollten wir noch mehr Wachposten anheuern, wenn die Lese erst mal begonnen hat.«
»Noch ist es nicht so weit. Bis dahin können sich die Menschen wieder beruhigt haben.«
Newman sah Helena zweifelnd an. »Ich fürchte, es wird eher noch schlimmer werden.«
Routiniert untersuchte Dr. Fraser Louises Kopf und betrachtete ihre Augen. Er erneuerte den Verband, horchte ihre Brust mit einem Stethoskop ab und zog sich dann an den Schreibtisch zurück, um etwas zu notieren.
»Was ist mit mir, Herr Doktor?«, fragte Louise. Vorsichtig erhob sie sich und knöpfte die Bluse wieder zu.
»Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung und eine Platzwunde. Nichts Ernstes. In ein paar Tagen sind Sie wieder auf dem Damm.« Fraser stockte und rieb sich nachdenklich übers Kinn. »Es gibt allerdings eine Sache, die mir Sorgen bereitet.«
»Und die wäre?«
»Beim Abhören Ihrer Herztöne habe ich Unregelmäßigkeiten festgestellt.«
»Ich bin alt, Doktor«, wiegelte Louise ab. »Da kann es hier und da ein wenig klemmen.«
»Haben Sie Beschwerden? Atemnot zum Beispiel oder Herzrasen?«
»Bisher nicht. Ist mir jedenfalls nicht aufgefallen.«
»Sobald Sie sich erholt haben, möchte ich, dass Sie sich bei mir in der Praxis vorstellen. Vielleicht ist diese Unregelmäßigkeit eine Folge des Schocks. Aber mir wäre wohler, wenn ich das noch mal abklären könnte.«
»Wollen Sie Ihre kostbare Zeit wirklich mit einer alten Frau verschwenden?«
»Sie sind noch keine alte Frau, Madame de Villiers. Trotzdem würde ich Ihnen empfehlen, sich strikt zu schonen.
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