Sonne über Wahi-Koura
Sie?«
»Weil ich neulich ein Mädchen im Weinberg beobachtet habe. Es hatte Steine in der Hand und schien ein Muster zu legen.«
»Einige Maori-Kinder kommen hin und wieder in den Weinberg. Immerhin ist dies das Land ihrer Vorfahren. Der Großvater von Madame hat den Maori zugesichert, dass sie sich hier frei bewegen dürfen. Die heiligen Orte der Maori liegen weiter im Hinterland. Die Grabhöhlen der Vorfahren zum Beispiel.«
»Wo liegen diese Höhlen?« In den Reiseberichten, die sie gelesen hatte, stand nichts von den Begräbnisritualen der Maori.
»Mitten im Busch, in einer ziemlich unwegsamen Gegend. Aber da hinzugehen, würde ich Ihnen nicht raten. Dieser Ort ist für alle Weißen tabu.«
»Stellen die Maori an diesen Orten Wachen auf?«
»Ja. Außerdem gibt es noch ihre mächtigen Flüche.«
»Flüche? Sie glauben an Flüche?«
»Jeder, der hier schon eine Weile lebt, glaubt daran, weil immer wieder Menschen bestraft werden, die gegen die Gebote der alten Götter verstoßen haben. Diebe, die etwas aus den Kulthallen entwendet haben, werden zum Beispiel krank oder verunglücken. Familien, die von der Heilerin mit einem Fluch belegt werden, leiden über Generationen unter Unglück.«
Ein Schauder überlief Helena. Ob so etwas überhaupt möglich ist? Oder will er mich nur einschüchtern?
Bevor sie antworten konnte, ertönte Hufschlag.
Newman blieb stehen und kniff die Augen zusammen. »Madame kehrt zurück. Heute wurde das Urteil in dem Mordfall gefällt.« Ein Schatten legte sich plötzlich auf sein Gesicht. »Da stimmt etwas nicht.«
Sanft löste er sich von Helena und lief der Kutsche entgegen.
»Warten Sie!«, rief Helena und raffte den Rock, damit sie ihm besser folgen konnte.
Didier trieb die Kutsche den Weg hinauf, als sei der Teufel hinter ihm her. Im Rondell machte er abrupt Halt.
Als Helena es erreichte, legte sich die aufgewirbelte Staubwolke gerade wieder. »O mein Gott!« Sie presste die Hand auf den Mund.
Louise lag mehr auf dem Rücksitz, als dass sie saß. Sie hielt ein blutgetränktes Tuch an die Schläfe gepresst.
»Was ist passiert?«, rief Newman, als Didier vom Kutschbock sprang.
»Wir sind angegriffen worden. Jemand hat Madame am Kopf verletzt.«
»Warum bist du nicht gleich zum Arzt gefahren?«
»Das war nicht möglich. Nach der Urteilsverkündung haben einige Leute randaliert. Ich hatte keine andere Wahl, als aus der Stadt zu fliehen.«
Helena trat neben Louise. Ihre Schwiegermutter war wach, starrte aber ausdruckslos gen Himmel.
»Ich helfe Ihnen, Madame«, sagte Helena sanft, aber Louise reagierte nicht. »Madame?«
Erst als Helena sie vorsichtig an der Schulter berührte, blickte Louise sie an.
»Was wollen Sie?«
»Ihnen aus der Kutsche helfen.«
»Ich mach das schon«, mischte sich Newman ein und beugte sich über Louise. »Wenn Sie erlauben, trage ich Sie ins Haus.«
Louise ließ es wortlos geschehen.
Helena folgte den beiden. »Besorg Verbandmaterial und Jod!«, wies sie Sarah an, die ihnen in der Eingangshalle entgegenkam.
Wie vom Donner gerührt, rannte das Dienstmädchen los.
Im Schlafzimmer legte Newman Louise aufs Bett. Obwohl sie bei Bewusstsein war, wirkte sie teilnahmslos.
»Vielleicht sollten Sie einen Arzt holen.«
»Keinen Arzt!«, flüsterte Louise.
»Doch, wir brauchen einen Arzt!«, widersprach Helena. »Sehen Sie sie sich mal ihre Pupillen an, Mister Newman! Eine ist größer als die andere. Das kann nicht normal sein!«
»Gut, ich reite in die Stadt. Bleiben Sie solange bei ihr.«
Helena zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich.
»Sie brauchen mich nicht wie ein Wachhund zu belagern«, brummte Louise.
»Ich belagere Sie nicht, Madame, ich behalte Sie nur im Auge«, entgegnete Helena sanft. »Für den Fall der Fälle.«
»Was können Sie schon tun, wenn sich mein Zustand verschlimmert? Wollen Sie sich aufs Pferd schwingen und hinter Newman herreiten?«
Offenbar geht es ihr doch nicht so schlecht, dachte Helena spöttisch. »Nein, Madame, wohl kaum. Trotzdem lasse ich Sie nicht allein.«
Louise kniff die Lippen zusammen und blickte starr an die Decke.
Wie zerbrechlich sie wirkt!, dachte Helena. Zum ersten Mal stieg so etwas wie Sorge in ihr auf. Louise hätte sich das gewiss verbeten, aber Helena wollte nicht, dass ihrer Schwiegermutter etwas geschah, trotz allem, was diese ihr angetan hatte.
Als Sarah mit heißem Wasser und dem Leinen kam, wusch Helena die Wunde vorsichtig aus.
Louise regte sich nicht. Sie schien mit
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