Sonne über Wahi-Koura
ihrer Schwiegertochter vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Das Knirschen des Sandes unter ihren Füßen erschien ihr überlaut. Ihre Schläfen pochten, und ein eisiger Schmerz erfasste ihre Brust.
Ein Galgen! Erschrocken presste Louise die Hand auf den Mund. Ein riesiger Galgen überragte die Rebstöcke! Während sie durch die Spaliere eilte, schlug sie wütend nach dem Weinlaub und riss einige Blätter ab.
Das Gemurmel der Männer, die sich um den Galgen geschart hatten, verstummte, als sie bei ihnen eintraf.
Die Stoffpuppe, die am Galgen baumelte, trug ein schwarzes Kleid und eine graue Perücke, eine schlechte Karikatur von Louise. Auf dem Schild, das sie um den Hals trug, prangte in fetten Lettern: »Der Mörder sitzt im Zuchthaus, du brennst in der Hölle!«
Jemand schien Louise die Kehle zuzudrücken. Panisch um Atem ringend, griff sie zur Seite und klammerte sich an Newmans Arm. Der Boden unter ihren Füßen schwankte, ihr Blick verschwamm. So weit ist es schon gekommen!, dachte sie entsetzt. Sie drohen mir ganz offen mit Mord!
»Madame, alles in Ordnung mit Ihnen?« Newman war kreidebleich geworden.
Louise rang um Fassung. Ich darf nicht in Ohnmacht fallen!, beschwor sie sich. Meine Leute dürfen mich nicht schwach erleben. Und schon gar nicht meine Schwiegertochter. Sie atmete tief durch, machte sich abrupt von Newman los und schaute ihn vorwurfsvoll an. »Ich hatte Ihnen doch aufgetragen, Wachen aufzustellen! Wo waren diese Männer?«, bellte sie zornig.
»Wir sind ganz normal unsere Runde gegangen, Madame!«, meldete sich einer der Arbeiter zu Wort, während die anderen betreten auf ihre Stiefelspitzen starrten. »Wir haben wirklich nichts bemerkt, sonst hätten wir uns die Kerle vorgeknöpft.«
Louises Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte nie in Zweifel gezogen, dass ihre Männer zuverlässig waren. Aber nun fragte sie sich, ob es Verräter in den eigenen Reihen gab.
»Reißen Sie das ab!«, fuhr sie die Männer an.
»Sollten wir nicht vorher die Polizei verständigen?«, fragte Newman.
Der wird es egal sein, dachte Louise resigniert, doch sie nickte. »Ja, holen Sie sie her und zeigen sie denen dieses Machwerk. Und anschließend lassen Sie es verbrennen.«
»Sehr wohl, Madame.«
»Und, Newman!«
Der Kellermeister wandte sich um. »Ja, Madame?«
»Verstärken Sie die Wachen rings ums Gut! Wenn es sein muss, heuern Sie neue Männer an. Männer, die keine Skrupel haben, diesen Mistkerlen eine Ladung Schrot in den Leib zu jagen!«
»Verstanden, Madame. Wünschen Sie, dass ich Sie zum Haus begleite?«
»Ich kann allein gehen!«, herrschte Louise ihn an und stapfte davon.
Helena empfand Mitleid für Louise. Kein Wunder, dass sie so bitter ist, dachte sie. Erst verliert sie den einzigen Sohn, und dann versuchen gewisse Leute, sie zu ruinieren. Beim Anblick des Galgens erschauderte sie. Dass so etwas in der heutigen Zeit möglich war ... Sie fühlte sich plötzlich wie bei einem mittelalterlichen Hexenprozess oder bei einem Femegericht. Helena schüttelte missbilligend den Kopf. Neuseeland war für sie immer ein fortschrittliches Land gewesen. Immerhin hatte es als eine der ersten Nationen sogar das Frauenwahlrecht eingeführt. Und dann so etwas ...
»Sie sollten nach Ihrer Schwiegermutter sehen, Madam«, riet Newman. »Sie wirkt sehr mitgenommen.«
»Ich habe versucht, sie wieder ins Bett zu schicken, aber sie wollte nicht hören. Sie hätten ihr das vielleicht gar nicht erst zeigen sollen.«
Newman schüttelte den Kopf. »Madame hätte gewollt, dass ich es ihr zeige.«
»Ja, gewiss«, räumte Helena ein. »Meinen Sie, diese Drohung ist wirklich ernst zu nehmen?«
Newman zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Die Abstinenzler sind ziemlich radikal. Aber sie sollten sich besser nicht hier blicken lassen.« Newman ballte entschlossen die Fäuste.
»Wär's möglich, dass die beiden Eindringlinge von letzter Woche was damit zu tun haben?«
»Glauben Sie, die haben den Platz ausgesucht?«
»Ja.«
»Ich wünschte, wir hätten die Mistkerle erwischt.« Newman klang plötzlich müde.
»Sie sollten der Polizei von dem Vorfall berichten und meine Beschreibung weitergeben. Vielleicht hilft es, sie zu finden.«
»Das werde ich tun, aber ich fürchte, dass es nichts bringt.«
»Warum nicht?«
»Weil die Behörden kein Interesse daran haben, die Abstinenzler in die Schranken zu weisen. Ein paar meiner Leute haben berichtet, dass sie auf dem Heimweg belästigt worden sind. Sie
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