Sonne über Wahi-Koura
zehn Flaschen von diesem ersten Wein. Wahrscheinlich wird er noch hunderte Jahre hier liegen, denn es heißt, dass das Weingut gedeiht, solange diese Flaschen in unserem Keller sind. Schließlich möchte niemand, dass es mit Wahi-Koura bergab geht.«
»Natürlich nicht.« Helena strich versonnen über das Etikett. Die Tinte war an den Rändern ein wenig ausgelaufen und verblichen.
»Wie alt waren Ihre ältesten Weine?«
»Mein Vater war der Meinung, dass Weine ab einer gewissen Zeit untrinkbar werden. Weine sind keine Einrichtungsgegenstände, die man der Nachwelt vererbt, lautete seine Philosophie. Wein muss getrunken werden. Unsere ältesten Flaschen waren deshalb nicht älter als fünfzig Jahre.«
»Eine gute Philosophie. Genauso sehe ich es auch.«
Schweigend sahen sie einander an. Helena glaubte in seinen Augen zu versinken, und ihr Herz pochte plötzlich bis zum Hals. Aber das Gewissen meldete sich rechzeitig, bevor sie etwas tun konnte, was sie später bereuen würde. Sie wollte Laurents Andenken nicht beschmutzen.
Sie räusperte sich, und die Magie zwischen ihnen verflog. »Vielen Dank für die kleine Führung.«
»Helena!«, rief er, als sie zum Ausgang stürmte. »Ich ...«
»Ja?«
»Bitte verzeihen Sie, ich ... ich begleite Sie nach oben.«
3
Seit Abby Lewis sich als Kindermädchen der kleinen Laura angenommen hatte, war Louise wie verwandelt. Allmählich gefiel es auch Helena, dass sie selbst etwas mehr Zeit für sich hatte, zumal sie Laura bei der sympathischen jungen Frau in den besten Händen wusste.
Mit allen Sinnen sog Helena in sich auf, was ihre Schwiegermutter ihr nun Tag für Tag erzählte. Louise gewährte ihr neuerdings Einblick in den Betrieb des Weinguts. Helena fragte sich nicht, was diesen Sinneswandel bewirkt hatte, sie freute sich nur darüber. Sie hatte sich bereits mit den wichtigsten Geschäftspartnern und Zulieferern vertraut gemacht und mit ihrer Schwiegermutter über verschiedene Anbaumethoden und das Kelterverfahren gesprochen. Wenn Louise ab und zu noch so tat, als habe sie eine blutige Anfängerin vor sich, sah Helena geduldig darüber hinweg. Jeden Morgen erschien sie pünktlich in Louises Büro, das sie erst wieder verließ, um sich zwischendurch davon zu überzeugen, dass es Laura mit dem Kindermädchen gutging.
Abby Lewis war ein echter Gewinn. Unter ihrer Obhut gedieh Laura prächtig. Da das Mädchen ein Zimmer im Westflügel bezogen hatte, war es auch immer schnell zur Stelle, wenn Helena Hilfe benötigte.
Als Helena an diesem Morgen das Arbeitszimmer betrat, war Louise noch nicht da. Wie es ihre Angewohnheit war, öffnete Helena ein Fenster, um zu lüften. Die Morgensonne leuchtete und tauchte den Dunst, der über den Reben lag, in ein kräftiges Rot. Was für ein wunderbarer Anblick! »Guten Morgen, Mistress de Villiers!«
Zane Newman tauchte hinter der Hausecke auf und winkte ihr lächelnd zu. »Guten Morgen, Mister Newman. Wie geht es dem neuen Wein?«
»Bestens! In ein paar Wochen werden wir ihn auf Flaschen ziehen können.« Und ich werde dann ganz offiziell dabei sein!, dachte Helena. »Gut zu hören! Was gibt es sonst Neues?«
»Nur den üblichen Tratsch. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen davon bei einem Spaziergang durch den Weinberg. Wie wär's heute Mittag?«
»Das wäre mir sehr recht.«
»Gut, ich erwarte Sie vor dem Kelterschuppen.«
Helena strahlte, als sie hinter Newman hersah. Es freute sie, dass er die Scheu verloren hatte und mit ihr sprach, als seien sie alte Freunde. »Guten Morgen, Helena.«
Helena fuhr zusammen und wandte sich um. »Guten Morgen, Madame!« Seit wann steht Louise da? Und wieso spricht sie mich mit dem Vornamen an? »Ich darf Sie doch ›Helena‹ nennen?«
Helena räusperte sich verlegen. »Natürlich, Madame.« Sie schloss das Fenster und setzte sich an ihren Platz vor dem Schreibtisch.
»Mit wem haben Sie vorhin gesprochen?«, wollte Louise wissen, als sie vor das Regal mit den Rechnungsbüchern trat.
»Mit Mister Newman.«
Louise betrachtete sie prüfend. »Was halten Sie von ihm?«
Helena schoss das Blut in die Wangen. »Er ist ein sehr gewissenhafter und kenntnisreicher Kellermeister.«
»Hegen Sie persönliche Gefühle für ihn?«
Wie kommt sie bloß darauf?, fragte sich Helena empört. Doch sie sagte nur: »Ich schätze ihn sehr. Er hat mir schon einige Male geholfen und erkundigt sich immer nach seinem Patenkind.«
Louises Blick klebte weiterhin an ihr. »Können Sie sich vorstellen, noch einmal
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