Sonnenfeuer
Echsen konnte sie leben. Aber mit Schlangen? Niemals.
Im Lauf der Zeit hatte sie das Haus immer seltener verlassen, lebte einsam und ohne Freunde; es gab niemanden, den sie bekochen konnte, es gab kaum etwas zu tun in einem Haus, in dem alles blitzblank gewienert war. Verzweifelt wartete sie auf Ottos Rückkehr.
Doch jetzt, als sie die ganze Nacht am Bett ihrer Patientin Wache hielt, hatte sie Zeit zum Nachdenken. Aus der Entfernung erschienen ihre Nachbarn gar nicht mehr so schlimm. Was bildeten sich diese Leute überhaupt ein? Sie waren doch nichts weiter als armer englischer Abschaum. Da sie nun ihr früheres Verhalten mit ein wenig mehr Abstand betrachten konnte, wunderte sie sich, wie sie sich in solch einen Zustand hatte hineinsteigern können. Daheim in Hamburg war sie eine fidele, geschäftige Frau gewesen, die Familie und Freunde mit hausgemachten eingelegten Gurken, Kuchen und Würsten versorgt hatte. Mit ihren Würsten hatte sie auf dem jährlich stattfindenden Jahrmarkt sogar einen Preis gewonnen. Und nur zwei Jahre in Brisbane hatten ausgereicht, sie zu einem Häuflein Elend zu machen. Wenn sie recht darüber nachdachte: keiner der Nachbarn war ihr je lästig geworden oder hatte ohne Erlaubnis das Grundstück betreten. Da sie auf ihr deutsches Erbe stolz war, war sie tief getroffen, daß die Engländer (für sie waren sie alle Engländer, obwohl manche betonten, in Australien geboren zu sein) die Gattin eines geachteten deutschen Kapitäns mit Geringschätzung behandelten. Otto selbst war nicht den Schmähungen ausgesetzt, die sie ertragen mußte. Feiglinge waren sie alle! Aber war sie denn besser, wie sie hinter ihrer Gardine lauerte und fast jede Woche das gute Leinen wusch und bügelte, um die Zeit totzuschlagen, und wie sie sich bei ihrem Ehemann über die Einsamkeit beklagte?
Wenn sie nach Hause zurückkam, so beschloß Augusta, würde sich einiges ändern. Sie würde nach Belieben kommen und gehen und dabei den Blick nicht senken. Sie würde mehr einkochen und den Nachbarn davon abgeben. Das würde sie überraschen. Sie war eine gute Köchin, das würden die Nachbarn schon herausfinden. Und sie würde Käse machen, wie früher zu Hause in Deutschland, und ihn verkaufen.
Im Rückblick schien es erstaunlich, daß sie ihr wahres Ich so lange hatte verleugnen können; eine beinahe fünfzigjährige Frau hatte sich in ein schüchternes Mäuschen verwandelt und das Haus nur noch zum Kirchgang verlassen. Manchmal, wenn ihr die Lebensmittel ausgegangen waren, hatte sie eher auf ihre Mahlzeiten verzichtet als sich auf die Straße zu wagen. Selbst wenn sie ihren breitrandigen Hut tief ins Gesicht drückte, saß ihr die Angst im Nacken … Angst wovor?
Nachdem Augusta all dies erkannt hatte, stand sie vor einer weiteren Schwierigkeit. Wie sollte sie Otto klarmachen, daß sie sich schließlich doch entschieden hatte, zu Hause zu bleiben? Er hatte sie mit all ihren dummen Sorgen nicht ernstgenommen, hatte sie schließlich für unfähig gehalten, alleine zurechtzukommen. Nun würde er sie für noch dümmer halten, wenn sie schon wieder ihre Meinung änderte. Denn hatte sie ihn nicht immer wieder bekniet, bis er ihr endlich nachgab und sie auf der
White Rose
mitfahren ließ?
Das Mädchen erwachte plötzlich, stieß wieder einen gequälten Schrei aus und begann, um sich zu schlagen. Augusta hielt sie fest. Es war, als ob man einen vor sich hin strampelnden Irren zu besänftigen versuchte, aber Gussie wußte, daß die Kleine nicht verrückt war. Sie fürchtete sich nur entsetzlich, weil die Sonne aufging und sie sich noch immer an diesem seltsamen Ort befand.
Edmund brachte das Frühstück herein und nutzte jede Gelegenheit, um das Mädchen anzustarren. Gussie spürte, daß sie wieder Appetit hatte. Die Seekrankheit war vorüber, und sie war nun wirklich hungrig. »Reich mir die Wurstpastete und den Schinken«, sagte sie.
»Das ist für den Käpt’n«, erklärte Edmund und stellte ihr Tee und die üblichen Kekse hin.
»Dann bring noch einmal etwas für den Käpt’n, Edmund. Heute werde ich richtig essen.«
Er grinste und eilte davon. Gussie aß etwas von der Pastete und achtete dabei darauf, daß das Mädchen sie riechen konnte. Daraufhin hielt sie ihm die warmen Schinkenscheiben unter die Nase. Zu ihrer Freude bewegte sich das Mädchen und kaute hungrig auf dem Stück Schinken herum, das Gussie ihm in den Mund steckte, dann setzte es sich auf und tastete nach mehr. Sie tastete danach! Gussie war wie
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