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Sonnenlaeufer

Sonnenlaeufer

Titel: Sonnenlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Rawn
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sie dem Prinzen saubere Bandagen um seine Mitte. Ihr Rücken schmerzte, und ihre Augen brannten von der Anstrengung, so feine Arbeit so schnell zu erledigen. Sie richtete sich auf und drehte sich zu ihrer Schwester um. Deren blaue Augen sahen nur Zehavas aschfahles Gesicht. Andrade wusch die Hände in einem Becken mit blutig-rotem Wasser, trocknete sie ab und warf ihren langen Zopf über die Schulter zurück. »Milar«, fing sie an.
    »Nein«, wisperte ihre Schwester. »Lasst mich mit ihm allein.«
    Andrade nickte und schickte mit einem Blick alle anderen hinaus. Im Vorzimmer schloss sie die Tür und machte den verschreckten Bediensteten ein Zeichen, worauf diese eilig davonschlurften.
    »Er wird sterben, nicht wahr?«, fragte Tobin leise, und Tränen liefen langsam über ihre Wangen. Sie wischte sie fort. Schmale Spuren blieben auf ihrem Gesicht zurück.
    Chaynal gab einen erstickten kehligen Laut von sich und marschierte davon. Andrade sagte ruhig: »Ja.«
    »Arme Mutter. Und armer Rohan.«
    »Ich brauche deine Hilfe, Tobin. Der Kummer muss warten. Du weißt, dass ich eine Fähigkeit besitze, die deine Mutter nicht hat. Diese Veranlagung überspringt manchmal Generationen, so, wie du Zwillinge geboren hast, Milar aber nicht. Was in mir ist, ist auch in dir.«
    Die Augen der Prinzessin weiteten sich vor Schreck. »Heißt das, ich …«
    »Ja. Ich bin müde, und ich brauche jetzt die Kraft, die dir innewohnt, die zu benutzen du nie gelernt hast.« Sie führte Tobin den langen Gang entlang in die Gemächer, die sie bewohnte, und versperrte die Tür hinter ihnen. Sonnenschein fiel herein und tauchte die Möbel und Bettvorhänge in goldenes Licht. Andrade stand mit ihrer Nichte an den Fenstern, von denen aus man die langsam sinkende Sonne sehen konnte. »Vielleicht hätte ich es dir sagen sollen, hätte ich dir zeigen sollen, wie du die Gabe nutzen kannst, die die Göttin dir geschenkt hat. Aber du warst zufrieden so, wie es war, und Faradhi- Macht wird jene, die sie nicht benötigen, nicht gelehrt.«
    »Du willst mich also benutzen, wie du jeden benutzt«, sagte Tobin. Es war jedoch kein Vorwurf in ihrer Stimme. »Was soll ich tun?«
    »Hör mir zu. Schau nicht direkt in die Sonne, Mädchen, sonst verbrennst du dir die Augen. Schau dir stattdessen an, was sie mit dem Land macht – die Vertiefungen, die sich mit Licht füllen, wie Wasser hohle Steine füllt und Luft die Drachenhöhlen und Feuer die Höhlungen der Erde. Das Licht bewegt sich«, hauchte sie, »es liebkost die Erde wie ein Liebhaber, es erwärmt die Luft, funkelt auf dem Wasser und findet seinen Partner im Feuer. Aus diesen vier Dingen ist alles gemacht. Berühre mit mir das Sonnenlicht, Tobin – fühle, wie sich seine Stränge zwischen deinen Fingern verweben, und seine Farben wie Seidenfäden aus Juwelen … ja, genau so. Jetzt folge ihm mit mir. Werde zum Sonnenlicht, schwinge dich empor über das Land …«

Kapitel 2

    Als Sioned drei Jahre alt war, wurde ihr Bruder Davvi, zwölf Winter älter als sie, durch den Tod ihrer Eltern zum Herrn von River Run. Wenige Jahre darauf heiratete er. Der Vater seiner Braut hatte keine anderen Erben, und so erbte seine Tochter alles, als er starb. Davvi sah sich plötzlich als Athri zweier prächtiger Burgen und Ländereien, die sich über zwanzig Längen am Catha-Fluss hin erstreckten. Doch die neue Herrin von River Run war ungeheuer besitzergreifend. Sie neidete Sioned nicht nur den Anteil des Reichtums, der deren Mitgift ausmachen würde, sondern selbst die Zuneigung zwischen Bruder und Schwester. So erkaufte sie sich – zu einem Preis, der weit niedriger war als die Ehe mit einem ihr ebenbürtigen Lord – Sioneds Eintritt in die Schule der Göttin. Die zwölfjährige Sioned war daheim so unglücklich, dass sie freudig in das große Schloss am Rande der Klippen von Ossetia zog. Hier fand sie Freundschaft unter den anderen Schülern und Kenntnisse genug, um ihren gierigen Wissensdurst zu stillen. Die kleinen Merkwürdigkeiten, die ihre Schwägerin als »Weltentrücktheit« bezeichnet hatte, erwiesen sich als Hinweise darauf, dass sie die Faradhi- Gabe in sich barg und ein Lichtläufer werden konnte.
    Nicht jeder, der in die Schule der Göttin eintrat, wurde ein Faradhi , und Lady Andrade duldete weder Überheblichkeit bei jenen, die es wurden, noch Neid unter jenen, die es nicht werden konnten. Doch es gab auch Unterschiede zwischen denen, die Lichtläufer wurden: die Ringe des erworbenen Ranges und die

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