Sonnenlaeufer
periodischen Besuche des Pinienhains in der Nähe der Schule. Im Jahre 693, als Sioned sechzehn war und den ersten silbernen Ring am Mittelfinger der rechten Hand trug, war sie an diesen Ort hinausgegangen, um dort, wenn ihr Talent mächtig genug und die Göttin Enthüllungen nicht abgeneigt war, einen Blick auf ihre Zukunft zu erhaschen.
Nach einem langen Marsch durch den Wald trat sie endlich in den strahlenden Sonnenschein hinaus, der ihren Körper wärmte und auf den Wellen weit unter ihr tanzte. Pinien ragten empor und bildeten einen Kreis um eine kleine Felsenquelle, aus der Wasser sprudelte und zum See hinabplätscherte. Sioned blieb außerhalb dieses Kreises stehen, entledigte sich all ihrer Kleider und schritt leichtfüßig über den Teppich aus blauen und purpurnen Blüten zu der Quelle hinüber.
Jeder der fünf Bäume hatte einen Namen: Baum des Mädchens, Baum der Jungfrau, Baum der Frau, Baum der Mutter und Baum der Alten. Nur eingehüllt von ihrem langen rotgoldenen Haar kniete Sioned neben den Steinen nieder und fing das Wasser mit ihren Händen auf. Sie verschüttete ein paar Tropfen für die beiden ersten Bäume, ehe sie sich dem Baum der Frau zuwandte. Sie war schon zwei Mal hierhergekommen – zuerst als kleines Mädchen, um etwas Wasser und eine Locke von ihrem Haar zu opfern, dann, ein Jahr später, als ihre erste Blutung anzeigte, dass sie kein Kind mehr war. Nun war sie bereit zum nächsten Schritt: sich als Frau zu erkennen zu geben. Denn in der vergangenen Nacht hatte sie sich zum ersten Mal einem Mann hingegeben.
Sie kehrte zu der Quelle zurück und kniete nieder, das Gesicht dem Baum der Frau zugewandt. Das Meer rauschte leise gegen die Klippen, und das Geräusch ließ sie an die leisen Laute denken, als sich in der letzten Nacht Fleisch an Fleisch gerieben hatte. Kein Wort war gesagt worden, und in der totalen Finsternis hatte sie nicht erkennen können, wer der Mann war; es war auch nicht von Bedeutung gewesen. Kein Mädchen erfuhr es jemals, denn der Zauber, der hier gewebt wurde, war mächtig. Außerdem wurde sorgfältig darauf geachtet, dass der Nacht des Frau-Werdens keine Kinder entsprangen; nachdem Sioned ihren Ehemann ausgewählt hatte, würde sie erneut in den Hain kommen und den Baum der Mutter bitten, ihr einen Blick auf die Kinder zu gewähren, die sie bekommen konnte.
Doch darauf konnte sie warten. Das lag noch einige Jahre entfernt, und schließlich war sie gerade erst sechzehn. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie an die stumme Begegnung in der Dunkelheit dachte, ganz Wärme, Erregung und Potenz. Aber sie wusste auch, dass etwas gefehlt hatte. Sie hatte Zuneigung und Freude empfunden, doch es hatte die Gemeinschaft gefehlt, von der ihre Freundin Camigwen berichtete, dass sie sie mit ihrem Auserwählten, Ostvel, verspürte. Sioned wollte dasselbe auch für sich. Vielleicht würde der Baum der Frau ihr den Mann zeigen, mit dem sie es finden könnte.
Sie warf das Haar zurück, betrachtete den Baum und überlegte, was die Knaben und jungen Männer in der Schule hier wohl bei ihren Ritualen empfinden mochten. Für sie hatten die Bäume andere Namen: Baum des Knaben, des Jünglings, des Mannes, des Vaters und des Alten. Niemand sprach jemals davon, was in diesen Augenblicken geschah, aber sie hoffte, dass andere das Wasser singen hörten und hörten, wie ihre Namen durch die Zweige seufzten. Sie lächelte, während sie zuhörte. Dann hob sie beide Hände.
Ihr erster Ring war ihr am Vortag verliehen worden, als sie ihre Fähigkeit bewiesen hatte, Feuer herbeizurufen, und winzige Flammen brannten auf ihren Ruf hin oben auf den Steinen. Ihr eigener Atem fachte sie an, bis sie höher und höher aufstiegen und immer heller wurden, bis sie sich schließlich ganz deutlich im Wasser spiegelten. Sie zupfte ein einzelnes Haar von ihrem Kopf, das für die Dinge der Erde stand, aus denen sie geschaffen worden war. Sie ließ das Haar auf dem Wasser schwimmen. Ihr eigenes Gesicht spiegelte sich dort – blass, mit großen Augen und mädchenhafter Sanftmut, eingerahmt von einem Gewirr heller Haare. Sie ließ die Hände ins Wasser gleiten und starrte auf den Baum der Frau. Dann hielt sie den Atem an.
Das Feuer loderte auf den Felsen auf und erschreckte sie. Und ihre Finger krampften sich um silbernes Wasser. Ihr Gesicht hatte sich verändert: Die Wangen waren schmaler, die Wangenknochen und das zarte Kinn wirkten stolz. Die grünen Augen blickten dunkler und ernster, und ihr
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