Sonnenlaeufer
an den sonnigen Zinnen der Schule der Göttin entlangschlenderte. Das Meer war unter einem wolkenlosen Himmel von sanftem Blau, Sonnenschein senkte sich tief ins Wasser, um das neue Leben dort zu wärmen, und überall auf den Klippen lachten Otter, die mit ihren Jungen spielten. Sioned war vom Wasser fasziniert, gleich, ob es sich um den Ozean unterhalb der Schule der Göttin oder um den Catha-Fluss handelte, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. Aber gleichzeitig war sie wie alle Lichtläufer davor auf der Hut, denn nur wenige Faradhi’im waren in der Lage, den Fuß auf irgendetwas zu setzen, das im Wasser schwamm, ohne dass ihnen gleich so übel wurde wie einem vollgestopften Drachen.
Sioned löste ihr geflochtenes Haar und fuhr mit den Fingern hindurch. Sie spürte den Sonnenschein warm auf jeder Strähne. Bald würde sie wieder hineingehen müssen, um bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen – nicht, dass irgendjemand sie auch nur in die Nähe der Kochtöpfe gelassen hätte, außer um abzuschmecken. Sie war hoffnungslos ungeschickt bei all den Fähigkeiten, die Camigwen so problemlos praktizierte, ja, sie hatte es niemals auch nur gelernt, Kräuter und Klee zu einer anständigen Tasse Taze zu verarbeiten. Sioned lachte leise vor sich hin und hoffte, sie würde tatsächlich den Prinzen heiraten – denn dann brauchte sie sich niemals Sorgen wegen ihres völligen Mangels an praktischen Fähigkeiten zu machen. Seine Diener würden für alles sorgen, und …
Sioned .
Sie wirbelte herum und blickte nach Osten, von wo der Ruf gekommen war. Automatisch öffnete sie sich den Farben, die ihren Geist streiften. Es war immer ein Lichtläufer im Dienst, der die Botschaften empfing, die mit dem Licht gesandt wurden, aber heute war es nicht Sioneds Aufgabe. Jemand rief ganz bewusst nach ihr.
Sie webte ihr Lichtband über Felder und Täler, Flüsse und die weiten Grasebenen von Meadowlord. Die Fäden trafen sich, und ihre eigenen Farben mischten sich mit jenen von Lady Andrade. Da war aber noch eine zweite Gegenwart, ähnlich und doch anders, merkwürdig vertraut in manchen Schattierungen und stark auf eine Art und Weise, die ganz anders war als die von Lady Andrade. Manchmal, wenn das Licht unsicher war – besonders in der Morgen- oder Abenddämmerung – arbeiteten mehrere Faradhi’im zusammen. Aber Sioned war sich sicher, dass die Person, die bei Andrade war, nicht ausgebildet war, obwohl ihre Faradhi- Gabe in den strahlenden Farben Bernstein, Amethyst und Saphir unverkennbar war und das Muster einen kräftigen Geist verriet.
Danke, dass du mir entgegengekommen bist, mein Kind. Aber du musst noch weiter kommen, und zwar in Person. Stell einen Begleittross aus zwanzig Personen zusammen, Sioned. Es handelt sich nicht um eine Vergnügungsreise. Du musst in sechs Tagen hier sein. Doch ehe du Stronghold betrittst, putze dich schön und vornehm heraus. Du kommst als Braut hierher.
Obwohl sie seit fünf Jahren darauf gewartet hatte, war der Schock heftig. Ihr fiel keine andere Frage ein als die:
Weiß er es?
Noch nicht – aber er wird es wissen, sobald sein Blick auf dich fällt. Eile hierher zu mir, Sioned. Zu ihm.
Andrade und die geheimnisvolle andere Person zogen sich auf den schwächer werdenden Strahlen der Sonne zurück, und Sioned hastete auf dem von ihr selbst gewebten Band zurück in die Schule der Göttin. Dabei hielt sie nicht inne, wie sie es für gewöhnlich tat, um die Schönheit des Landes unter ihr zu bewundern. Sie fand sich fast zu abrupt in der Festung wieder und gewann erst langsam ihr geistiges und körperliches Gleichgewicht zurück. Unten auf den Feldern wurden mächtige Elche aus den Pflügen gespannt, und die Sonne war schon fast im Meer versunken. Sioned zitterte. Sie wusste, dass sie den Schattentod hätte sterben können, wenn sie ihre Rückkehr verzögert hätte und mit der Sonne im Meer der Dunkelheit versunken wäre.
»Sioned? Was machst du da oben? Und was ist überhaupt los?«
Camigwen näherte sich von der Treppe her. Sie runzelte die Stirn als Reaktion auf das, was – wie Sioned wusste – in ihrem Gesicht geschrieben stehen musste. Sie waren zur selben Zeit in die Schule der Göttin eingetreten, der Altersunterschied betrug nur ein Jahr, und schon am ersten Tag waren sie enge Freundinnen geworden. Neben Andrade war Camigwen die Einzige, die wusste, was Sioned im Wasser und Feuer gesehen hatte. Daher gab Sioned ihr eine einfache Erklärung.
»Die Zeit ist gekommen, Cami.
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