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Sonnenlaeufer

Sonnenlaeufer

Titel: Sonnenlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Rawn
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Mund hatte seinen kindlichen Schwung verloren. Dies war die Frau, die sie einmal werden würde, und sie war in ihrer Eitelkeit erfreut, wenngleich sie sich deswegen selbst des Verrates bezichtigte.
    Sioned prägte sich das Gesicht ein, das sie eines Tages haben würde. Sie konnte es kaum erwarten, zu dieser Frau mit diesen zuversichtlichen Augen und den beherrschten Zügen zu werden. Doch während sie noch ihr künftiges Spiegelbild betrachtete, flammte das Feuer erneut auf. Ein anderes Gesicht war jetzt im Wasser neben dem ihren zu sehen und brannte in einem eigenen Licht in den Spiegelflammen. Es war das Gesicht eines Mannes: Helles Haar fiel in eine breite Stirn und warf seinen Schatten über wasserblaue Augen. Es war ein Gesicht mit kräftigen Knochen und einem ernsten Mund. Doch in dem Schwung der Lippen lag auch Zärtlichkeit und Sanftmut, die die störrische Linie des Kiefers ausglichen.
    Feuer glitt die Hänge hinab und entzündete den Tümpel, und Sioned zog mit einem Angstschrei ihre Hände zurück. Das einzelne rotgoldene Haar, das auf dem Wasser trieb, kräuselte sich und wurde zu einem schmalen Flammenband, das sich um die Stirn des Mannes wand wie ein prinzliches Zeichen – und sich dann ausdehnte, bis auch sie dieselbe königliche Krone trug.
    Es dauerte lange, bis Sioned sich erhob. Selbst noch nachdem das Feuer erstorben und das Bild im Wasser vergangen war, nachdem die Luft aufgehört hatte, in den Bäumen zu singen und die Erde unterhalb des Tümpels ruhig geworden war, starrte sie mit aufgerissenen Augen auf den Steinhaufen und die Quelle. Schließlich umhüllte die Kühle der hereinbrechenden Nacht ihren nackten Körper, und sie schauderte. Der Bann war gebrochen.
    Am nächsten Tag suchte sie Lady Andrade auf, verängstigt durch das, was sie erblickt hatte. »War es wahr?«, drängte sie. »Was ich da gestern gesehen habe – wird es wahr werden?«
    »Vielleicht. Wenn die Vision dich beunruhigt hat, kann sie geändert werden. Nichts ist im Stein festgeschrieben, mein Kind. Und selbst wenn, so könnten Steine zerschmettert werden.« Nachdenklich blickte die Herrin in den strahlenden Sonnenschein hinaus. »Als ich etwa in deinem Alter war, warf ich einen Blick ins WASSER und sah das Gesicht eines Mannes. Es war nicht der Mann, den ich selbst mir ERWÄHLT hätte, und so tat ich alles, was in meiner Macht stand, um die Vision zu ändern. Heute weiß ich, dass das, was die Göttin mir zeigte, eine Warnung war, kein Versprechen. Vielleicht hat sie es mit dir ebenso gehalten.«
    »Nein«, murmelte Sioned. »Diesmal war es gewiss ein Versprechen.«
    Ein trockenes Lächeln spielte um die Lippen der Herrin. »Wie auch immer. Aber vergiss nicht, ein Mann ist mehr als nur Gesicht und Körper und Name. Manchmal ist er eine ganze Welt für sich, selbst wenn er kein großer Lord oder Prinz ist.«
    »Ich glaube, ich habe die ganze Welt in seinen Augen gesehen«, gab Sioned mit gerunzelter Stirn zu. »Ist es das, was Ihr meint?«
    »Wie jung du noch bist!«, bemerkte Lady Andrade mild, und das Mädchen errötete.
    Heute, fünf Jahre später, wusste Sioned, dass ihr eigenes Gesicht sich verändert hatte und schon fast der Vision entsprach, die sie an jenem Tag gesehen hatte. Nur der königliche Reif fehlte noch und ihre erste Begegnung mit diesem Mann. In den letzten Jahren hatte sie jeden blonden, blauäugigen Mann, der in die Schule der Göttin kam, sorgfältig gemustert, hatte aber keinen wie ihn gefunden. Wer war er?
    Auf die Antwort war sie ganz plötzlich gestoßen, als sie Lady Andrade geholfen hatte, für deren Reise nach Stronghold zu packen. Blondes Haar, blaue Augen, eine gewisse Stellung der Knochen – Sioned war verblüfft gewesen, dass es ihr nie zuvor aufgefallen war. Dann begriff sie, dass ›zuvor‹ nicht der richtige Zeitpunkt gewesen war, nicht für ein derartiges Wissen. Nun endlich sah sie das Echo dieses maskulinen Gesichts in Lady Andrade, erinnerte sie sich des königlichen Reifes und der Tatsache, dass der Neffe der Lady ein Prinz war. Obwohl sie nichts gesagt hatte, hatte Andrade aus ihrem Blick den Schock erkannt, und sie hatte mit einem stummen Nicken die Wahrheit bestätigt.
    Eines jedoch verwirrte Sioned noch immer. Sie selbst hatte den Reif geformt, das auf dem Wasser treibende Haar. Aber er war doch bereits von königlichem Blut, war bereits der Erbe; wie konnte seine Ernennung zum Prinzen der Wüste etwas mit ihr zu tun haben? Sie dachte darüber nach, als sie eines Nachmittags

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