Sonnenlaeufer
kahl, und Sioned begriff, dass sie niemals wieder am Morgen nach dem Aufwachen ihre Füße auf einen eiskalten Steinboden stellen musste. Dieselben Kacheln, die auch im Bad verwendet worden waren, rahmten den Spiegel, die Fenster und die Türbogen. Alles andere war weißer Gips über geglätteten Steinen.
Die Außentür öffnete sich, und Sioned sprang auf. Aber es war Camigwen, nicht Andrade, die hereinschaute und zufrieden nickte. »Ich wusste es! Es ist größer als meins oder Ostvels. Ich war sicher, dass Urival dir etwas geben würde, was deinem künftigen Rang angemessen ist.«
Sioned überging diese Andeutung. »Hübsch, nicht wahr? Wie ist deins?«
»Im Großen und Ganzen genauso, nur nicht so groß und mit weniger Möbeln. Außerdem muss ich das Bad teilen. Hör zu, wenn du Prinzessin Milar vorgestellt wirst, sorge dafür, dass sie dir Seide für ein paar neue Gewänder anbietet. Sie wird es wahrscheinlich von sich aus erwähnen, aber für den Fall, dass sie es nicht tut …«
»Cami, ich werde nicht betteln …«
»Du Idiotin, bald wird dir das alles hier gehören, und jetzt fang nicht wieder an, das abzustreiten! Ich hab’ deine Augen gesehen – und seine!«
»Du hast überhaupt nichts gesehen.«
»Und ihr habt wunderbar dafür gesorgt, dass ich nichts höre, was? Also, was ist da draußen zwischen euch vorgefallen?«
»Genau das würde ich auch gern wissen.« Lady Andrades Stimme von der Tür ließ die beiden Mädchen zusammenfahren. »Camigwen, du wirst uns gewiss entschuldigen.«
Jede Faser ihres Körpers verriet Zögern, als Cami das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss. Andrade sah in der dunkelgrauen Seide und dem passenden Schleier, der ihr helles Haar bedeckte, eindrucksvoller aus denn je. Sie musterte Sioned kühl, als sie in einem blau-gepolsterten Sessel am Fenster Platz nahm.
»Was hältst du jetzt von dem Gesicht im Feuer?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich Euch richtig verstehe, Mylady.« Sioned nahm in dem anderen Sessel Platz, ohne um Erlaubnis gebeten zu haben.
»Mein liebes Kind, wir wissen beide, dass du über eine gehörige Portion Witz und eine noch größere Portion Stolz verfügst. Lassen wir die Formalitäten, und seien wir ehrlich miteinander. Willst du ihn haben?«
»Ich weiß nicht.«
»Er ist jung, reich, gutaussehend, intelligent und ein Prinz. Was fehlt ihm deiner Meinung nach noch? Du hast mir einmal gesagt, dass ein Blick in seine Augen dir sagen würde, was er dir bedeutet.«
»Es sind interessante Augen«, gab Sioned zu. »Aber ich habe das Gefühl, sie verbergen eine Menge.«
»Was, im Namen der Göttin, habt ihr beiden miteinander geredet?«, rief Andrade aus.
Es verursachte Sioned ein grimmiges Vergnügen, die mächtige Herrin der Schule der Göttin im Unklaren zu lassen. »Wir kamen überein, noch zu warten«, erzählte sie wahrheitsgemäß.
»Und wie lange?«
»Er erwähnte das Rialla .«
»Was? Für derartige Dinge wird er in Waes keine Zeit haben! Jeder Prinz wird ihn beobachten, Roelstra wird bereit sein zu …« Sie lachte laut heraus. »Roelstra! Oh, dieser hinterlistige Sohn eines Drachen!«
Verblüfft starrte Sioned sie an. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft, während sie versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie jemals von dem Hoheprinzen gehört hatte. Rücksichtslos, verschlagen, intrigant – Eigenschaften, die Andrade in Fülle besaß –, und Roelstra war Andrades Feind aus Gründen, die niemand wirklich kannte. Von der Felsenburg aus regierte er die Prinzenmark, hatte seine Finger in den Angelegenheiten der meisten anderen Prinzenreiche – und litt unter einem Haufen Töchter.
Durch zusammengebissene Zähne holte sie tief Luft. Also das war es, was Rohan vorhatte, hm?
»Gut. Du verstehst es jetzt also«, meinte Andrade, die Sioneds grimmiges kleines Lächeln richtig deutete. »Vertraust du ihm?«
Nach kurzem Zögern antwortete Sioned, diesmal vollkommen ehrlich: »Ich bin mir nicht sicher. Wenn ich mit ihm zusammen bin, ist es unwichtig. Nichts ist wichtig außer ihm. Ich vertraue ihm, wenn er mir Grund dazu gibt.«
»Sorg dafür, dass er dich ins Vertrauen zieht, Sioned. Zwinge ihn, die Wahrheit zu sagen, und erweise dich dann ihrer würdig – und lasse ihn dasselbe tun. Misstrauen ist schön und gut, um den Appetit eines Liebhabers anzuregen, aber zwischen Ehemann und Ehefrau ist es fatal.«
»Wir müssen einander glauben«, murmelte Sioned. Sie stand auf und warf Andrade einen flehenden Blick zu. »Versprecht
Weitere Kostenlose Bücher