Sonnenlaeufer
Bemerkung nicht gehört. »Die schwarzhaarige Frau muss Lord Chaynals Gemahlin sein.«
»Wer anders als eine Ehefrau könnte einen Mann so schelten?«, fragte Ostvel trocken, aber in seinem lockeren Ton lag eine Nervosität, die Camigwen deutlich spürte, Sioned dagegen nicht.
Prinzessin Tobin bearbeitete ihren Gatten tatsächlich mit spitzer Zunge. Sie war über die Jagd nicht informiert worden und schimpfte in aller Öffentlichkeit mit ihm. Die Diener versuchten vergebens, Lächeln und Augenzwinkern angesichts einiger Ausdrücke zu unterdrücken, die über ihre Lippen kamen. Ihr Temperament schien allgemein bekannt, und wenn es sich nicht gegen sie selbst richtete, konnten sie es genießen. Lord Chaynal ließ die bissigen Kommentare seiner Ehefrau über seine voraussichtliche Lebenszeit und seine Herkunft geduldig über sich ergehen, während er den Sattel löste und die Hufe seines Hengstes nach Steinen absuchte. Schließlich, nachdem er seinen Pflichten dem Tier gegenüber nachgekommen war, wandte er seine ganze Aufmerksamkeit seiner Ehefrau zu. Er nahm einen ihrer langen Zöpfe in jede Hand, zog sie an sich und verschloss ihren Mund mit einem Kuss.
Zwei kleine Jungen stürzten in den Hof und rannten um Pferde, Knechte und Schlossdiener herum. Sie verlangten, die Trophäen der Drachenjagd augenblicklich zu sehen. Ihre grauen Augen verrieten, dass es sich um Lord Chaynals Söhne handeln musste, und Sioned lächelte, als dieser seine atemlose Gemahlin losließ und die Zwillinge liebevoll umarmte.
Rohan war Mittelpunkt der Aufmerksamkeit seiner Mutter und seiner Tante. Geduldig ertrug er Milars besorgte Fragen über sein Wohlbefinden und die düstere Haltung von Andrade. Als die Familie auf die Treppe zuging, die zur Haupthalle der Burg führte, sah sich Ostval verblüfft um. »Sioned – niemand hat dich auch nur willkommen geheißen!«
»Es wird keinen Empfang für mich geben – nicht so, wie du es erwartest«, sagte sie und folgte dem Prinzen mit ihren Blicken.
Camigwen starrte sie an. »Was? Wie kann er das wagen!«
»Bitte, Cami! Sein Vater ist tot. Wir können nicht erwarten …«
»Ich kann und tue es!«, gab diese zurück.
»Cami – nicht jetzt«, befahl Sioned ihr.
Lady Andrade trennte sich am Fuß der Treppe von den anderen und näherte sich Sioned mit grimmigem Gesicht. »Du bist sehr schnell gekommen.«
»So schnell wir konnten«, antwortete Sioned.
Nach einem vernichtenden Blick auf Sioneds schmutzige Reisekleidung sagte Andrade: »Das sehe ich. Geh nach oben. Urival wird sich um dich kümmern, da sonst niemand Zeit für dich hat. Ich erwarte, dass du vor Anbruch der Nacht bereit bist, mich zu empfangen, Sioned.« Mit diesen Worten schritt sie voran.
»Warum ist sie denn so wütend?«, beschwerte sich Camigwen, als sie den Hof durchquerten. »Wir haben doch nichts Falsches getan!«
»Wenn hier irgendjemand etwas falsch gemacht hat, dann der Prinz«, erklärte Ostvel. »Was ist denn das für ein Empfang für eine Braut?«
»Ich will ab sofort nichts mehr davon hören!«, rief Sioned aus. »Und redet nicht so, als wäre ich mit ihm bereits verlobt, denn das bin ich nicht – und ich weiß noch nicht einmal, ob ich es will!«
Sie sah traurig den Schock und den Schmerz in den Gesichtern ihrer Freunde. Sie sorgten sich nur um ihre Ehre und ihr Glück; sie liebten sie. Sie hoffte, Rohan würde ihr gestatten, ihnen zu erzählen, warum diese Scharade notwendig war – und sie trat die Rückkehr zur Vernunft mit dem Gedanken an, dass er gut daran täte, zuerst einmal sie mit einer passenden Erklärung zu versehen. Urival, der Präfekt der Schule der Göttin, wartete in der mit Bannern geschmückten Eingangshalle auf sie. Er rief Sioneds Namen, als die drei sich bemühten, nicht mit offenem Mund auf die Teppiche, edlen Möbel und das geschnitzte Holz zu starren, das sie umgab. Sein Lächeln verriet Mitleid, als er vortrat, um sie zu begrüßen.
»Du hast sicher einen besseren Empfang erwartet, aber nach dem Tod des alten Prinzen kurz vor Tagesanbruch und der verrückten Drachenjagd von Rohan, der unbedingt das Tier töten wollte, das seinen Vater …« Er zuckte mit den Achseln. »Du hättest dir keinen schlechteren Augenblick für deine Ankunft aussuchen können, Sioned.«
»Das macht nichts.« Sie wusste, dass es der bestmögliche Zeitpunkt gewesen war. Niemand würde unter dem Druck der Ereignisse auf sie achten, und sie war so in der Lage, unbemerkt ein Gefühl für den Ort und die
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