Sonnenlaeufer
durch das Sonnen- und Mondschein fallen. Jeder Mensch besteht aus einem einzigartigen Muster von Farben, die die Faradhi’im berühren können. Ich weiß, das klingt sonderbar – als wäre man in der Lage, einen Duft zu berühren. Faradhi’im lernen ihre eigenen Farben sehr früh kennen und prägen sich die Muster ein, so dass sie zu ihrem eigenen Licht zurückkehren können.«
»Und weil du und Andrade Tobins Farben kanntet, konntet ihr sie zurückbringen. Andernfalls hätten wir sie verloren.«
»Es hätte nicht geschehen dürfen, Herr. Es tut mir leid.« Sie brach ab und rang ihre Hände in ihrem Schoss. »Es tut mir leid«, wiederholte sie.
»Es war schön«, meinte Tobin nachdenklich. »So viel Licht, ineinander verwoben wie ein großer Teppich aus Juwelen.«
»Und die Schatten, die sie geworfen haben«, fügte Sioned leise hinzu. »Wir sind alle auch aus Schatten gemacht.«
Chay schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher, dass ich das alles verstehe, aber …« Er begegnete Tobins Blick, die zur Tür schaute. »Ich wünsche keine weiteren Entschuldigungen von Euch, Mylady«, erklärte er Sioned, als er aufstand. »Es ist passiert, und nun ist es vorbei. Ich denke, ich sehe mal nach den Knaben.« Er beugte sich über Tobin, küsste sie und ging.
Tobin richtete sich im Bett weiter auf und wünschte, Sioned würde sie ansehen. »Rücksichtsvoll, nicht wahr?«, versuchte sie die Spannung zu lindern.
Die Lichtläuferin erwiderte endlich ihren Blick. Ein kleines Lächeln spielte um ihren Mund. Tobin überflog hastig ihre Züge, sah Leidenschaft und Hartnäckigkeit, Intelligenz und Stolz. Sioned war Rohan sicher ebenbürtig, sagte sie sich.
»Ich muss noch einiges darüber lernen, eine Faradhi zu sein. Bringst du es mir bei, Sioned?«
»Wenn Lady Andrade sagt, dass ich es darf …«
»Ich glaube schon, dass sie das wird. Sie lässt sich niemals irgendetwas oder irgendjemanden entgehen, das oder der möglicherweise von Nutzen für sie sein könnte. Ich kenne meine Tante sehr gut. Ich möchte dich aber noch nach etwas anderem fragen, was gestern Abend passiert ist. Ich habe nämlich gespürt, wie jemand gerufen hat, jemand, der nicht Teil dieser Gruppe hier war.«
Die Lichtläuferin runzelte die Stirn. »Gerufen? Wie?«
Sie überlegte einen Augenblick. »Es war schrecklich, wie ich von dem Gewebten fortgerissen wurde«, erklärte sie langsam. »Er schien das zu verstehen. In seiner Stimme lag eine solche Verzweiflung.«
»Seiner?«
»Ich weiß zwar nicht, woher ich es weiß, aber ich bin sicher, dass es ein Mann war.«
Sioned erhob sich und trat an die Fenster, die auf den tiefer liegenden Garten hinausgingen. »Ihr seid talentierter, als Lady Andrade vermutet. Es ist nicht leicht, auf das Geschlecht eines Menschen aus seinen Farben zu schließen. Welche habt Ihr gefühlt?«
»Hauptsächlich Saphir – und dann noch etwas, das sich anfühlte wie ein schwarzer Diamant, wenn es so etwas gibt. Warum?«
»Ihr denkt in Juwelenfarben«, lautete Sioneds Kommentar, ehe sie sich wieder Tobin zuwandte. »Das ist eine sehr alte Art der Identifikation von Faradhi’im . Die Farbmuster bleiben dieselben, aber die Schattierungen können manchmal wechseln. Urival hat die Theorie entwickelt, dass etwas geschehen ist, was die Persönlichkeit eines Lichtläufers verändert hat, wenn helle Farben dunkler werden, so wie bei diesem schwarzen Diamanten, den Ihr gefühlt habt. Manchmal spiegeln sie auch die Stimmung wider.«
»Weißt du, wer dieser Mann sein könnte?«
»Nein, Hoheit. Aber ich werde Urival davon erzählen, wenn Ihr wollt.«
»Wahrscheinlich war es nur ein Echo meines eigenen Verlustes. Es war tatsächlich eine unglaubliche Erfahrung. Eine, die ich wirklich gerne wiederholen würde, wenn du mir ein paar Dinge beigebracht hast. So, ehe Chay zurückkehrt, und von Frau zu Frau – was hältst du von meinem Bruder?«
Diese unvermittelte Frage trieb die Röte in Sioneds Wangen. »Ihr kennt die Farben meiner Gedanken, Hoheit«, erwiderte sie mit bewundernswerter Beherrschung. »Ihr solltet auch das wissen.«
»Ich fürchte, du hast mehr über mich herausgefunden als ich über dich. Du bist Saphir und Smaragd und noch etwas anderes, aber das ist es nicht, was mich im Augenblick interessiert. Was hältst du von Rohan?«
Sioneds Rücken wurde steif, und der Blick ihrer grünen Augen wanderte erneut zu den offenen Fenstern. Ehe Tobin etwas einfiel, womit sie dem Mädchen die Spannung nehmen und ihr die
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