Sonnenlaeufer
dazu noch zu jung. In stummem Dank drückte sie seine Hand und stand dann neben ihm und starrte in die Flammen.
Szenen ihrer Kindheit schienen im Feuer zu flackern, und ein Lächeln trat unter dem Schleier auf ihr Gesicht. Ihr Vater war so gut zu ihnen gewesen. Er hatte sie mit unendlicher, brummiger und nachsichtiger Zärtlichkeit geliebt, obwohl er sie nicht ganz verstanden hatte. Die Stunden vergingen, und sie durchlebte in den Flammen die Vergangenheit noch einmal, sah Zehava, der mit ihnen Drachen spielte, der sie lehrte, wie man in der Wüste überlebt, der sie mitnahm, wenn er über Land ritt – Radzyn, Tiglath, Schloss Tuath, Skybowl, Remagev, die Faolain-Tiefebene und ein Dutzend kleinerer Burgen. So lernten Rohan und sie, was es hieß, der Herrscher der Wüste zu sein. Tobin fühlte, wie ihr Kummer verging, während diese Erinnerungen ihr Herz erhellten.
Ich danke dir für mein Leben, Vater. Du konntest mit Ritualen niemals viel anfangen, nicht wahr? Aber dieses hier erinnert mich an all die Dinge, die du mir geschenkt hast, indem du mir das Leben geschenkt hast. Ich liebe dich, wie ich das WASSER liebe, das ich trinke, und die LUFT , die ich atme, die Früchte der ERDE , die mich nährt, und das FEUER zwischen Chay und mir. All das hast du mir gegeben. Ich danke dir für mein Leben.
Als die drei stillen, silberumhüllten Monde den höchsten Stand erreicht hatten und ihr Licht sehr rein war, bildeten die Faradhi’im einen Halbkreis so nah am Bestattungsstein, wie das Feuer es zuließ. Rauch und Ascheflocken stiegen auf und bildeten einen schwarzgrauen Hintergrund, als sie sich an den Händen fassten, fünfundzwanzig schiefergraue Gestalten mit Lady Andrade in der Mitte. Zu jeder anderen Zeit hätte Anthoula dieses Ritual allein vollziehen müssen. Tobin war froh, dass der alten Frau diese Mühe erspart blieb – und dass sich so viele eingefunden hatten, um diesem Ritual Kraft zu geben. Sie spürte Energie um sich her aufflammen und schwankte ein wenig. Chaynal, der neben ihr stand, legte einen Arm um ihre Taille. Sie war sich der fragenden Blicke bewusst, die Rohan und er über ihren Kopf hinweg wechselten, konnte aber keinen von ihnen ansehen. Ganz in der Nähe wurde Macht verwebt, und sie spürte es mit jedem Nerv.
Die Faradhi’im verwebten das Mondlicht zu einer seidengleichen Decke, die so lang und breit war wie das Land vom Meer der Morgenröte bis zur Insel Kierst-Isel, und die alle anderen Faradhi’im davon in Kenntnis setzte, dass der alte Prinz gestorben war. Tobins Augen brannten angesichts der Vielfalt von Prismen, von unterschiedlichen Farben, die alle zu einem lockeren und doch dichteren Material verwebt wurden, das sich in alle Richtungen erstreckte. Und sie war ein Teil davon – sie glitt mit ihnen an den Kettfäden entlang, über mondhelle Wiesen und Berge, über Wälder und Seen und tiefe Schluchten, vorbei an schneebedeckten Bergen und weiten, mit Weizen bestellten Ebenen. Sie war ein silberflügeliger Vogel, unter dessen Blick sich der ganze Kontinent erstreckte und der Federn aus Licht nach unten treiben ließ, wo sie von den Faradhi’im in Hunderten von Burgen eingefangen wurden. Sie war sie selbst, aber sie war auch jeder der Lichtläufer, die mit dem Gesicht zur Flamme standen.
Wie wunderschön sie war, diese traumhafte Landschaft. Sie flog mit ihnen, in ihnen, und die Farben veränderten sich und tanzten um sie her. Ohne jegliche Ausbildung und bar jeder Kontrolle abgesehen von der Führung durch Andrade war Tobin Teil des leuchtenden Stoffes aus Mondschein, der über dem Land lag; war sie ein frei fliegender Vogel; war sie ein brüllender Drache, der durch den Nachthimmel glitt. Sie verlor sich in Bildern und Farben und tanzte verzückt durch Licht und Schatten.
»Tobin!«
Sie empfand vage Missbilligung, als jemand die Tradition störte und die Stille durchbrach. Ihr Name erklang erneut, und etwas in ihr krümmte sich. Zu abrupt machte sie kehrt und stand auf einmal wieder in der Wüste, nahe dem Scheiterhaufen ihres Vaters. Chays Arme lagen um sie, und sein Gesicht war starr vor Entsetzen. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihren Schädel, und sie wimmerte und suchte tastend nach dem Teil von sich, der noch immer über dem Mondschein schwebte. Aber sie war allein, auf der Erde, und schrie auf aus Kummer über den Verlust dieser unglaublichen Schönheit. Von irgendwoher ertönte ein Antwortschrei, ebenso verzweifelt wie ihr eigener, die Stimme eines unbekannten Faradhi ,
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