Sonnenlaeufer
der ihre Pein besser begriff, als die anderen es vermochten. Ein flüchtiges Bild strahlender Farben, die dunkel geworden waren, durchzuckte sie, und sie wollte weinen.
»Sioned!«, rief eine andere Stimme, und überrascht wurde ihr klar, dass sie zum ersten Mal gehört hatte, dass ihr Bruder den Namen des Mädchens aussprach. Sie zitterte wie ein Mobile im Sturm, ihre Knochen bebten, und jeder Herzschlag ließ neuen Schmerz durch ihren Kopf zucken. »Sioned!«, rief Rohan wieder.
Aber es war Andrade, die antwortete. »Urival – sorg dafür, dass sie weiter atmet! Sioned, hilf mir!«
Die Farben wurden noch intensiver. Nadeln aus Rot, Blau und Grün stachen in ihr Fleisch und ihre Knochen. Einige von ihnen schmerzten, als sie ausgerissen wurden, andere verschmolzen mit ihrem Körper, und sie erkannte sie als ihre eigenen.
Tobin wurde sich bewusst, dass sie gegen die Brust eines Menschen gelehnt war und dass sich Hände um ihre Rippen schlossen und rhythmisch dagegen drückten, um sie am Atmen zu halten. Urival, dachte sie und wunderte sich nicht einmal, woher sie das wusste. Jemand anders kniete an ihrer linken Seite und hielt ihre Hände, und ohne die Augen zu öffnen, wusste sie, dass es Sioned war. Genauso leicht konnte sie Andrade zu ihrer Rechten fühlen. Sie sackte zusammen, ungemein schwach und unsagbar froh, am Leben zu sein.
»Tobin?«, flüsterte Chay, und endlich öffnete sie die Augen. Er kniete neben Sioned. Die Flammen zuckten über sein Gesicht und seine Schulter. Sie rückte von Urival ab und zu ihrem Gatten hinüber. Sie löste ihre Hände und berührte leise lächelnd seine Wange.
»Bleib, wo du bist«, befahl Andrade scharf. »Ich werde dir das nicht ein zweites Mal sagen, also hör genau zu. Du wärest heute Nacht beinahe den Schattentod gestorben, Tobin, und wenn Sioned und ich nicht deine Farben gekannt hätten, wärest du tot. Versuche niemals wieder, einem Lichtläufer zu folgen!«
Milar stöhnte auf. »Ist es das gewesen? Aber wie konnte sie das tun?«
»Ist das nicht ganz offensichtlich?«, meinte Andrade achselzuckend. »Sie hat doch die Gabe, Milar.«
»Von mir.« Die Prinzessin wandte den Kopf ab.
»Aber es war schön!«, protestierte Tobin. »Dafür muss man sich doch nicht schämen!«
»Natürlich nicht«, bestätigte Andrade und warf einen wütenden Blick auf ihre Zwillingsschwester. »Trotzdem hättest du das nicht machen dürfen.«
»Es war nicht die Schuld Ihrer Hoheit, Mylady«, hauchte Sioned mit hängendem Kopf. »Ich war die Ursache. Vergebt mir. Es ist passiert, weil ich sie früher schon berührt habe. Ich – ich bin meiner Ringe nicht würdig …«
Mit zornig gerunzelter Stirn hockte Andrade auf den Fersen. Doch es war Urival, der schließlich in betont mildem Ton erklärte: »Ich dachte, ich hätte dich etwas Besseres gelehrt.«
»Wie es scheint, hat sie nicht genügend aufgepasst«, warf Rohan kühl ein.
Sioned fuhr zusammen. Aber obgleich ihn alle entsetzt anstarrten, wagte doch keiner, ihm die Antwort zu geben, die eine so arrogante Grobheit verdiente. Heute Nacht war er weder Bruder noch Sohn noch Freund; er war der Prinz.
Andrade war es, die schließlich das Schweigen brach. »Chay, bring sie in die Burg zurück. Sie soll sich ausruhen. Sie braucht Zeit zum Heilen.«
»Aber sie wird wieder ganz in Ordnung sein«, sagte er, ohne direkt zu fragen.
Tobin richtete sich auf, um zu sitzen, und verbarg ihren plötzlichen Schwindel. »Ich wünschte, ihr würdet endlich aufhören, über mich zu reden, als wäre ich nicht da. Es geht mir gut.«
»Wir werden sehen. Chay, bring sie zu Bett.« Andrade erhob sich, ergriff Milars Arm und kehrte mit ihr zu Zehava zurück.
Tobin ließ es geschehen, dass Urival ihr auf die Füße half und sie dann Chays besorgter Fürsorge überließ. Obwohl er sich vergewissert hatte, dass sie gehen konnte, erlaubte er es nicht; er hob sie hoch und trug sie die ganze Strecke von drei Längen, und befahl ihr, den Mund zu halten, als sie zum Protest ansetzte. Einmal schaute sie über ihre Schulter zurück zu ihrem Bruder, der allein und starr dort stand und auf Sioneds gebeugten Kopf niederblickte.
Es gelang Tobin, wach zu bleiben, bis Chay sie zu Bett gebracht und zugedeckt und dafür gesorgt hatte, dass sie ein Glas Wein trank. Nach dem Fasten dieses Tages und den Ereignissen der Nacht wirkte der Wein wie ein Kinnhaken auf sie. Das Nächste, was sie wusste, war, dass es Morgen war und er noch immer an ihrer Seite wachte. Die
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