Sonnenscheinpferd
tätschelte einem liebevoll den Kopf und sagte, man sei ein braves Mädchen, und man freute sich bis zum Einschlafen darüber, dass Harald so ein braves Mädchen hatte.
Mir ging auch auf, dass er sich trotz allem um das ein oder andere im Zusammenhang mit seinen Kindern sorgte, vor allem um deren körperliche Verfassung und das mangelnde Interesse an dem wenigen Essen, das auf den Tisch kam. Vereinzelte Male schnitzelte er sogar rohe Rüben für uns, die er selber besorgt hatte. Er achtete auch meistens darauf, dass Sahne im Haus war. Ansonsten stand er Ernährungsfragen und anderen grundlegenden Dingen, die Ragnhild vernachlässigte, ratlos gegenüber. Es waren aber auch andere Zeiten.
Schließlich vermochten weder die Zeiten noch Ragnhild Harald zu bremsen. Er führte den Lammeintopf ein und kochte selbst. Mittwochs. Der Zeitpunkt war wissenschaftlich gesetzt, denn an dem Tag waren die Sonntagskeulenreste alle, oder sie erinnerten zu sehr an etwas, worüber Ungeziefer hergefallen war.
Harald kochte seinen Eintopf grundsätzlich am Mittwoch und an keinem anderen Tag, egal ob er die Grippe hatte oder ob ein Patient nach ihm verlangte, er kochte den Lammeintopf. Möglicherweise befürchtete er, dass die Zubereitung aus dem Ruder lief oder eingestellt würde, wenn er da schluderte, und sei es auch nur ein einziges Mal, donnerstags statt mittwochs, freitags statt mittwochs, dienstags statt mittwochs. Im schlimmsten Fall würde der eine oder andere Eintopf ganz ausfallen, und das Ende davon wäre, dass der Lammeintopf komplett ausfiele.
Mittwochs war zufälligerweise auch Küchentag. Den taufte ich um und nannte ihn Harald-Eintopf-Tag. Das wurden die wichtigsten Tage in der Woche, und ich freute mich sogarmanchmal auf sie, auch wenn es mehr Arbeit für mich bedeutete. Ich musste nämlich mit dem Aufnehmer jede Woche in alle Ecken der Küche kriechen statt nur alle zwei Wochen. Harald durfte nichts weniger als eine blitzblanke Küche vorfinden.
Ich sah zu, dass ich bei der Eintopfzubereitung in Haralds Nähe war, indem ich am Küchentisch Schularbeiten machte. Ich schützte immer dasselbe vor:
Unten in meinem Zimmer kriege ich kalte Zehen
. Worauf Harald antwortete:
Kalte Zehen, das darf aber nicht sein
. Manchmal wiederholte er das beim Kleinschneiden von Zwiebeln und Möhren: Kalte Zehen, das darf aber nicht sein.
Wenn der Eintopf kurz vor der Vollendung stand, packte ich meine Bücher zusammen und deckte den Tisch. Harald sagte immer dasselbe:
Du bist ein braves Mädchen
.
Die Mittwochseintöpfe reichten bis Freitag. Am Waschküchentag gab es nichts. Der Lammeintopf war gut.
Er wurde mit Engagement gekocht und schmeckte nicht immer gleich. Mal verwendete Harald Suppenwürfel von Maggi, mal von Knorr. Manchmal gab er Haferflocken oder sogar ganze Haferkörner hinein, oder auch Reis. Blumenkohl konnte bisweilen darin sein, fast immer Möhren, Zwiebeln, gelbe Rüben und Lorbeerblätter.
Dieser Eintopf war in vieler Hinsicht ein Meilenstein. Durch ihn fiel die lähmende Müdigkeit in der Schule von mir ab. Mummi wurde kräftiger auf den Beinen, und der grünliche Schleim aus unseren Nasen wurde dünner und klarer. Möglich sogar, dass die Nasen zeitweilig ganz aufhörten zu laufen.
Ich setzte mich auf das abgedeckte Konfirmationsbett und sah in den Garten hinaus, der noch genauso eingerahmt war wie zu unseren Kinderzeiten: in der Mitte der Nasenbaum mitdem gespaltenen Stamm, der mich an Magdas Stelle umarmte, und ich hatte mich damit getröstet, dass er nicht wie Magda weggehen, sondern immer bei mir bleiben würde.
Niemand anders als mein alter Baum konnte mir in dem beistehen, was kaum zu ertragen war, nämlich bei Harald zu wachen bis in seinen Tod. Falls er nicht die Gelegenheit beim Schopf ergriff, während sich die allernächste Angehörige für einen Moment entfernte; nicht wenige Kranke auf meiner Station hatten diesen klammheimlichen Weg gewählt.
Endgültig zu sterben dauert meist genauso lange, wie drei Fußböden zu wischen, wenn man auch in die Ecken geht.
Und genau dieses Dreibödenkontingent an Zeit nutzen sie, um sich davonzumachen, Menschen, die allem Anschein nach viel zu hinfällig waren, um irgendetwas zu organisieren, und am allerwenigsten die Todesstunde. Während ein Angehöriger nur auf einen Sprung wegmuss, um etwas zu erledigen, und so schnell wie möglich zurückkehrt.
Obwohl meine Gummisohlen keine Geräusche machten, öffnete Harald die Augen in dem Augenblick, als ich in der
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