Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sonnenscheinpferd

Sonnenscheinpferd

Titel: Sonnenscheinpferd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steinunn Sigurðardóttir
Vom Netzwerk:
Tür erschien. Die Wangen waren morphiumgerötet, er schien höchstens sechzig und keineswegs mit einem Bein im Grab zu sein. Ich setzte mich zu ihm ans Bett und nahm seine Hand. Die Kunst, sterbende Menschen zu betreuen, war so gründlich von mir gewichen, dass ich keine Ahnung hatte, ob ich sie zu fest hielt und ihn verletzte.
    Ich verlor auch die große Aufgabe aus den Augen, nämlich dafür zu sorgen, dass der Sterbende aufgibt, und ihn so sanft wie möglich zu der Tür zu führen, die sich ein für alle Mal hinter ihm schließen wird, und wenn er vor ihr steht, ihm zu sagen: «Jetzt noch einen Schritt, das schaffst dubestimmt. Nach diesem einen Schritt, wenn du über die Schwelle bist, brauchst du nichts mehr zu fürchten und niemals mehr zu bereuen.»
    Als Harald nun wieder bei Bewusstsein war, wahrscheinlich zum letzten Mal, wartete ich darauf, dass er etwas von sich gäbe, weise Worte am Ende des Weges, oder ein Fazit – obwohl ich es hätte besser wissen müssen.

    Von einem Sterbenden wird unter anderem erwartet, dass er ein Orakel ist.

    Dass er «etwas von sich gibt», bevor er verscheidet.

    Eine große Wahrheit. Lebensweisheit, ja. Ratschläge, vielleicht.

    Wer stirbt, ist aber hauptsächlich des Lebens müde. Er hat nur noch den Wunsch, gehen zu dürfen, bevor die nächste Welle von Übelkeit oder Schmerz anbrandet.

    Nichts läge ihm ferner, als «etwas von sich zu geben».

    Auch wenn er sprechen dürfte.

    Ihm fällt nichts Vernünftiges ein,

    und anders als viele glauben, wäre er vielleicht froh, beim Sterben allein zu sein.

    Fern von zerquälten Augen. Fern von Händen, die ihn zu fest halten

    und ihm das Schwerste von allem noch schwerer machen.

    Harald gab nichts Orakelhaftes von sich, er sagte: Zeig es mir.
    Er meinte ein altes Bild von seiner Liebsten, das er in seiner Brieftasche in der Nachttischschublade aufbewahrte. (Wir tun recht daran, uns mit Brieftaschen Mühe zu geben, denn kaum etwas anderes begleitet uns so lange im Leben, und oft enthalten sie etwas Relevantes.)
    Da sah ich sie zum ersten Mal, ein lächelndes Mädchen mit Hut. Lächelnde Menschen aus der isländischen Vergangenheit sind eine Ausnahme, und dieses dunkelhaarige Mädchen mit dem Hut war eine Ausnahme, das Lächeln strahlend und seltsam anmutig und lieb. Unwahrscheinlich, dass diese Liebste sich mit auch nur einer einzigen ANSICHT abgeschleppt hatte, und erst recht nicht mit etwas, was mit Ragnhilds Exzessen vergleichbar gewesen wäre.
    Sie wartet, sagte Harald.
    Ich bin sicher, dass sie das tut, sagte ich, völlig konträr zu meiner Ansicht darüber, wie es nach dem Tod weitergeht. Das Totenbett ist nämlich nicht der richtige Ort für Ansichten – das zumindest ist positiv an diesem Ort.
    Ich freue mich darauf, sagte Harald.
    Das darfst du ruhig tun, sagte ich aus geheuchelter Überzeugung heraus und küsste ihn auf die Stirn, und da existierten wir das erste und einzige Mal in unserem Leben Seite an Seite.
    Harald schlummerte ein. Leider wachte er noch einmal auf, und die letzten Worte in seinem Leben waren an mich gerichtet, zwei Worte, unter denen ich mich zusammenkrümmte, als hätte ich einen Tiefschlag erhalten.
    Mein Kind.
    Ich wünschte zu Gott, Haralds Augenlicht möge nachgelassen haben, damit ihm meine Reaktion darauf, sein Kind genannt zu werden, wenn es unumstößlich und definitiv zu spät war, erspart bliebe. Das hätte der Tod von Harald abwendenkönnen, aber der Tod ist nicht barmherzig, wie ihm manchmal angedichtet wird, sondern er ist grausamer als das Leben.
    Ich selber würde an diesen Worten für den Rest meines Lebens zu knacken haben, sein Kind, das diese Worte gerade noch vernahm und direkt in die offene Wunde der Gewissensqual blickte. Ab jetzt durfte ich kein unbestimmtes Kind mehr sein wie bislang, mit einem Vaterbild anstelle eines Vaters.
    Und Harald war es nicht vergönnt, in dem Augenblick hinüberzugehen, als er sich darauf freute, endlich wieder ein lächelndes Mädchen mit einem kleinen Hut und keiner einzigen Ansicht zu umarmen – selbst das war ihm nicht vergönnt. Ganz bald würde sich zeigen, dass er sich von der ganzen Welt mit einem entschuldigenden Lächeln verabschieden sollte, weil er derjenigen gegenüber versagt hatte, die er sein Kind nannte – in der letzten Stunde.

    Todesstunden kommen immer ungelegen, zumindest die, bei denen ich zugegen war.

    Der Tod kommt nie zur rechten Zeit, und dahinter steckt Methode.

    Denn der Tod ist ebenso falsch wie grausam.

Weitere Kostenlose Bücher