Sonnenwanderer
Kerzenlicht. »Wer wird euch aus der Äußeren Finsternis führen, dem Abgrund entreißen? Wer wird euch zum Palast führen und zum Tempel der Rechtschaffenheit, eurem Erbe? Zu wem betet ihr, Kinder? Betet ihr zum Käpt’n und sagt: ›Käpt’n, rette uns?‹«
»Nein!«
»Betet ihr zu Madam Cherub und sagt: ›Cherub, rette meinen Arsch?‹«
»Nein!«, rief die Gemeinde im Chor. Larry warf einen ironischen Blick auf Xtaska, aber der Cherub hing oben in den Speicheraggregaten, vertieft in private Analysen.
Der Hahn lehnte sich vor, die Schatten unter der breiten Hutkrempe legten eine Samtmaske über sein Gesicht. Seine Stimme schmolz zu einem Flüstern, so leise wie das Rascheln des Winds im Laub der Fußangeln.
»Betet ihr zu Fräulein Geheimnisvoll?«
»Nein!«, brüllten sie rachsüchtig. Man hätte meinen können, dieses Phantom hätte jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind im Tabernakel der Träume Gewalt angetan. Vielleicht hatten sie wirklich das Gefühl. Sie wussten, dass sie eine Diebin war.
Vielleicht hatte sie ihnen ihr Zuhause, ihre Beziehungen, ihren ganzen Kontext in Raum und Zeit geraubt.
Dann fragte sie der Hahn: »Zu wem wollt ihr beten?«
Und wie bestellt sang eine Frau ganz vorne: »Wir wollen zu Capella beten! Wir wollen zu Bruder Jesus beten, Bruder Jesus, hilf uns jetzt!«
»Rette uns, Bruder Ezechiel, Schwester Maria!«
»Bruder Elvis, beschütze uns vor der Teufelin!«
Jetzt wurde sie im Maison Zouagou zum Teufel gestempelt, während sie in den Blogs der Silikon-Sekte zu einer Art Göttin hochstilisiert wurde. Für Larry war sie einfach eine Verrückte. Was hatten Lloyd und die anderen bei diesem Suchtrupp verloren? Warum hatten sie die Xtaki Kru gegen diesen Quatsch eingetauscht?
Hier gab es jetzt ein paar Typen, die wirklich integral waren. Larrys Finger flogen, fütterten mehr als zehn Bildschirme mit allem, was er draufhatte. »Verifiziert«, sagte er bewundernd und setzte das Kinn auf die verschränkten Finger.
Fünf von ihnen kamen im Gänsemarsch einen Limbischen Fußtunnel herunter. Der Empfang war lausig, aber wenigstens in Echtzeit; deutlich zu erkennen waren sie an ihrer Gangart und daran, wie sie ihren Kopf hielten, perfekt ausbalanciert, als wären interne Gyroskope am Werk. Aber keiner von ihnen war optimiert oder ergänzt. Bei allen handelte es sich um Menschen im Originalzustand. Eine wichtige Voraussetzung, um Tombo zu werden.
Die Krähen hingen aus ihren Behausungen, jubelten und schwenkten ramponierte Fahnen. Jeder wusste, Tombo kämpfte für ihn ohne Ansehen der Person. Manche Tombos stammten
selbst aus den Krähenkolonien, junge Frauen und Männer, die sich vornahmen, durch Disziplin und die alles erhellende körperliche Bewegung der Armut und dem Elend zu entkommen. Andere waren bekehrte Verbrecher; entlassene Chili-Chalet-Angestellte; Straßenkämpfer vom Mars, hager und narbig. Einer hatte ein Nunchaku dabei; ein anderer, ein Hüne von einem Kerl, trug einen Bauernspieß, doch die meisten verließen sich auf ihre Hände und Füße, waren Lowtech-Jünger. Larry respektierte ihre Haltung, obwohl er selbst ein Hightech-Apostel war.
Tombo winkte nicht zurück. Sie lebten abgesondert. Schaute dich einer von ihnen an, war das wie ein Faustschlag in die Magengrube. Sprach einer von ihnen deinen Namen aus, war das, als würde man dich mit einem Skalpell aus der Umgebung schneiden. Sie glitten durch den Abfall, als handle es sich um lauter Rosenblätter.
Die Anführerin, eine schwarzhaarige Asiatin in hautengen, weißen Hosen, sah fabelhaft aus. Mit einem heimlichen Blick zu Xtaska peppte Larry ihren Körper bis zum Gehtnichtmehr auf. Als er noch mit ihren Kurven beschäftigt war, fuhr ihre linke Hand vorbei, und Larry erhaschte einen Blick auf ihr Tattoo. Das Symbol von Tombo: drei Linien, eine stilisierte Libelle. Larry tastete unwillkürlich nach seinem subkutanen Xtaki Kru: einer sich ständig verästelnden Spirale. Sie schien unmerklich zu pochen, als hätten ihm die eigenen Zellen etwas mitzuteilen.
In den Hängenden Gärten lauerte Niglon Leglois wilden Katzen auf. Er saß oben auf einem Sims hinter einem Vorhang aus Laub und wartete, dass unten auf dem mit Sprüngen und Furchen durchsetzten Boden eine vorbeilief. Bis jetzt hatte das keine getan, und das war gut so, weil es ihm die Mühe ersparte, sie abzuknallen und auch den Frust, falls er danebenschoss.
Nicht, dass keine da gewesen wären. Er hörte sie im Unterholz. Manchmal konnte er
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