Sonnenwanderer

Luftstrom-Manager vorstellte. Der Mann war Ex-Raumfahrer und erzählte Tabea über Flugdrachen, ließ seine
Hände herumsegeln und setzte mit dem Messer Akzente. Er aß nicht viel. Niemand tat das. Der Geruch des Schranten war nicht eben appetitfördernd.
    Während der Mahlzeit entschuldigten sich etliche und verließen den Raum.
    Tabea aß ungebremst. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt gegessen hatte. Ihre Aufmerksamkeit löste sich von dem Luftstrom-Manager und spazierte durch den Raum. Alles sah ziemlich retro aus, luxuriöse Lowtech, Hartholzvertäfelung und Samtvorhänge. Das Gemälde an der Decke zeigte einen muskulösen alten Mann in einem wallenden orangefarbenen Gewand, den lauter Mädchen mit Weintrauben fütterten. Ein Kellner nahm Tabeas Teller und ersetzte ihn durch einen frischen.
    Gerade eben hatte der einzige Exote in der Runde das Wort ergriffen. Der Name des Vespaners hörte sich an wie ein Mund voller Kieselsteine. Er redete über einen anderen Teil des Entwicklungsprojekts, ein Museum zur Erinnerung an die armen abgeschlachteten Eingeborenen, die eigentlichen Erbauer dieses großartigen Fahrzeugs.
    »Die Frasqui?« Tabea sah die riesigen Vogelscheuchen vorüberrudern. Dornige Klauen, die von außen an der Bugkanzel der Alice Liddell zerrten. Strohige Insekten mit riesigen, splissigen Gliedern, die droschen und ihren Saft durch den Kryobunker spritzten. »Sie wollen allen Ernstes ein Museum zur Erinnerung an die Frasqui bauen?«
    Zigarrenrauch aus lauter Öffnungen blasend, senkte der Vespaner seinen langen Hals. »Wir sin allemal Opfers van de Capellans«, erinnerte er vielsagend.
    »Nein«, sagte sie. »Nein, das können Sie nicht. Wir wünschen das nicht.« Das war offensichtlich ein Täuschungsmanöver, um
sie vom eigentlichen Coup abzulenken, was immer der war. Wer stand überhaupt hinter dem Ganzen? Bolt mit der silbernen Krawattenschwalbe und den Manschettenknöpfen, die laufend ihre Farbe wechselten; oder der Vespaner mit seiner doppelmannsbreiten Smokingjacke? Und Dorcas, was sprang dabei für Dorcas heraus? Die ambitionierten und zielbewussten Gesten, die Höflichkeit, die kaum die Verachtung verbarg. Als wüssten sie, dass sie durchschaut wurden, und machten sich nichts draus …
    Käpt’n Jute stieß ihr Glas um. Sie benetzte ihre Finger in der Weinlache. »Lieber Himmel«, sagte sie laut. »Vielleicht hätte ich doch besser Bier getrunken.«
    Dann sah sie auf und entdeckte auf einem bislang leeren Stuhl am anderen Ende des Tisches das kleine weiße Mädchen mit den kurzen Spitzenärmeln und den ernsten Augen.
     
    Alle riefen durcheinander, aber das kleine Mädchen nahm keine Notiz von ihnen und starrte böse auf Tabea. Regungslos wie eine Fotografie hing es am Ende des Tisches.
    Kenny drängte sich zähnefletschend zwischen Vanderlinc Bolt und Tabea, um seine Herrin abzuschirmen. Tabea erhob sich, funkelte das Kind an. »Da!«, sagte sie, Dorcas beim Ärmel packend. »Da! Was hab ich gesagt? Siehst du sie?«
    Alle sahen sie. Manche versuchten sie zu berühren, aber ihre Finger stießen ins Leere. Eine Frau versuchte den kleinen Eindringling mit ihrem Armbandset zu orten. Sie drückte mit einem winzigen Stift lauter ebenso winzige Tasten. »Ein Imago«, sagte sie aufgeregt. »Ein ferngesteuertes Imago!«
    »Standort bewegt sich!«, rief der Luftstrom-Manager.
    Tabea nahm die Faust an den Mund. »Was willst du?«, fragte sie die Erscheinung.

    Das Mädchen stand auf. Es stand auf und kam durch den Tisch hindurch zu ihr. Der kleine Blondkopf und die Schulterpartie glitten auf dem karmesinroten Tischtuch auf Tabea zu. Gläser, Kerzen und die großen silbernen Menagen traten so, wie sie im Schürzenlatz verschwanden, im Rücken wieder aus. Im Nu stand das Kind vor Tabea. Es schien nicht gut zu sprechen zu sein auf sein Gegenüber, denn es sah verdrossen aus. Die kleinen rosa Lippen öffneten sich.
    »Hör mal, so geht das aber nicht!«, sagte das kleine Gör.
    Und mit dieser Rüge auf den Lippen faltete es sich zu einem senkrechten, grellweißen Lichtstrahl zusammen, der sich mit dem Geräusch eines kosmischen Reißverschlusses nach oben verkürzte und in Nullkommanullinger verschwunden war.
    Kenny war schon auf dem Tisch und kauerte wie ein verdutzter Gepard vor der Stelle, wo das Ding verschwunden war, wobei sein Schwanz alles durcheinanderfegte. Er schnatterte in sein Armbandset, rief die Aufnahmen der lokalen Kameras ab, während die Sicherheitsleute des Konzerns sinnlos