Sonnenwanderer
Viele waren Jäger. Gerade jetzt überließen sie anderen ihre Zweitwaffen und Reserveausrüstungen. »Die Jagd geht weiter, Geneva«, meinten sie, »aber das Volk oben hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.« Ein Phantom aufzuspüren, war eine Sache, das aber war eine Story, die durch Mark und Bein ging; die jeden wie ein Faustschlag in den Magen traf.
Elise arbeitete sich um die Kaverne herum, auf der Suche nach dem Tor, aus dem die beladenen Trucks kamen. Sie hatte vor, sich an Bord zu schmuggeln und die Auslieferung heimlich zu dokumentieren.
Geneva wollte mit den Sologatos und der einzigen noch vorhandenen Kamera in die Kaverne hinunter. Sie wollten unbemerkt und so nahe wie möglich an die gigantische Kreatur herankommen. Der Professor wollte nicht mehr mit ihr reden, und sie war aufgeschmissen ohne seinen Kommentar. Also bastelte sie bereits an einer eigenen Doku mit dem Arbeitstitel DER GEFRORENE MOMENT. Einstieg: »In seinem Roman Naked Lunch hat William S. Burroughs, der Weise des 20. Jahrhunderts, den Augenblick beschrieben, in dem jeder sieht, was am Ende auf ihn wartet. Für die Passagiere der guten alten Plenty kommt dieser Augenblick heute. Ist dieser Augenblick gekommen. Ist dieser Augenblick: jetzt!«
Die Biologen ließen vier ihrer Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, bei Professor Xavier zurück. »Mach dir keine Sorge, Mutter«, sagte der ältere Junge. »Wir passen schon auf. Schließlich müssen wir immer noch die Geheimnisvolle finden.« Die Mädchen hatten sich bei den Händen gefasst und blickten ehrfürchtig zu Xtaska hoch, der wie eine wunderschöne Puppe auf seiner Untertasse thronte.
Der Cherub hatte die Händchen über dem Kugelbauch gefaltet und beobachtete Sepia.
Sepia schnippte mit schwieligen Fingern nach Odin. »Mäuschen!«, zischelte sie. »Kabelmäuschen, Bluetoothmäuschen, Infrarotmäuschen.«
24
Zwei Xtaska-Adepten mit Namen Jaz und Anno arbeiteten hoch oben auf einer der Schwebebühnen an der Wand des Hippokampus. Sie punktierten einen kalten Sektor des dunkelroten
Analogmaterials, der reich an unübersetzten Daten war. Kristallin, holografisch, fünf Millionen identischer Datenpakete schlummerten in den Wänden, wie schockgefroren durch einen traumatischen, hysterischen Energiestoß.
Es gab keinen Verkehr hier, doch die Geräusche aus nahe gelegenen Tunneln schienen sich in den Löchern hier oben zu sammeln und zu einem immerwährenden leisen Murmeln zu verschmelzen.
»Das ist hoffnungslos«, sagte Anno. »Wir kommen einfach nicht dran. Jaz, wir lassen das ruhen, bis Xtaska zurück ist.«
»Wer sagt, dass sie zurückkommt?«, sagte Jaz.
»Sag so was nicht«, stöhnte Anno.
»Nein«, sagte Jaz, »wir müssen einfach alles zurückmodellieren und nachschneiden, Probe um Probe. Warte mal.« Sein Gesicht wechselte den Ausdruck. Er hatte in der Ferne etwas ausgemacht, das dort nichts verloren hatte.
»Was ist denn?«
»Da drüben«, sagte er. »Gleich da hinten, so weit du sehen kannst. Ist das eine Person?«
Erst konnte Anno überhaupt nichts sehen. Dann drehte Jaz das Flutlicht in die Richtung, und sie sah jemanden mit ausgestreckten Armen und Beinen in der Wand hängen. »Sieht aus wie ein Mensch«, sagte sie
Jaz alarmierte den gesamten Hippokampus. Anno lief zur Steuerung. Er warf die Schwebeplattform an und bat um freie Bahn.
»Ich hab sie«, sagte Jaz und justierte das Bild.
»Ist sie das? Sag bloß!«
»Sie ist es. Ich sag’s dir.« Er lachte sich ins Fäustchen. »Auf frischer Tat!«
»Was tut sie denn?«
Die Frau hing an dem Insulitwulst vierzig Meter über dem Boden. Sie hielt sich am Haken eines dicken gelben Überbrückungskabels fest und schwang sich, den anderen Haken in der Hand, in ihrem langen schwarzen Mantel vom linken Ende einer analogen Stirn zum rechten Ende hinüber. Der Haken traf, rutschte ab. Immer wieder ließ sie sich zurückfallen und holte Schwung. Bei jedem kurzen Kontakt klang es wie zerreißender Stahl, und die ausgestreckten Arme und das fliegende Haar wurden von winzigen goldenen Funken gesäumt. »Wir haben sie!«
»Aufpassen, sie haut ab …«
Mit einem raschen Blick über die Schulter war die Frau auf und davon. Sie tanzte in einem irrwitzigen Zickzack über die Wand, tauchte Kopf voran in ein Loch und verschwand im Belüftungssystem. Sie hinterließ nichts als Schürfspuren; ein paar Fetzen Alufolie und den Geruch von ionisierter Luft.
Und das, was die Überwachungskameras von ihr aufgezeichnet hatten.
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