Sonnenwanderer
Tochter Morgan, die gerade vierzehn geworden war. »Hör auf zu stöhnen, Morgan«, sagte Frau Shoe, die auf Zehenspitzen stehend die Ablage über der Garderobe abtastete. »Man sollte meinen,
du könntest dankbar sein für die Chance, hinauszugehen und dir ein Stück Welt anzusehen.«
Morgan half ihr nicht beim Suchen. Sie stand da mit verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern. »Du hast leicht reden«, murrte sie. »Du hast das nie gemusst.« Morgan hatte einfach keine Lust, über den Mündigkeitsritus nachzudenken. Sie und zwei andere, die diesen Monat Geburtstag hatten, würden bald nach unten zu den Docks gebracht werden, um von dort selbstständig wieder nach Hause zu finden. Sinn und Zweck der Übung war es, so die Führerin von New Little Foxbourne, das Selbstbewusstsein der Gemeinde zu stärken.
»Nein, hab ich nicht, aber dafür hatten wir andere Probleme«, sagte Morgans Mutter. Sie konnte sich kaum noch an die Probleme erinnern, die sie vor vierzig Jahren als Heranwachsende in England gehabt hatte. Die Länge der Kleider, fiel ihr ein: umnähen oder auslassen; das hatte dazugehört. Hier war es so kalt, dass man alles am Leib trug, was man hatte.
»Solange du auf dieser Seite der Längsfurche bleibst, kannst du nichts falsch machen.«
»Vielleicht komme ich nicht zurück«, sagte Morgan. »Vielleicht gehe ich nach achtern, wo die Kavernen der Unordnung sind.« Sie nahm Bücher auf, blätterte sie durch, legte sie wieder hin. Sie hatte immer lesen lernen wollen, war aber nie dazu gekommen. »Vielleicht werde ich Mitglied einer lesbischen Bikergang.«
»Um Gottes willen, Morgan«, sagte ihre Mutter, die Schublade um Schublade der Kommode durchsuchte. »Wo soll das denn sein?«
Morgan blickte hinaus auf den Blumenkasten. Die Scheibe war fast blind. Mit der Fingerkuppe wischte sie ein Loch in die feine Schmutzschicht. »Mama«, sagte sie. »Was ist das?«
»Ich kann jetzt nicht, Liebling, ich habe zu tun.«
Mit einer bedächtigen Geste öffnete Morgan das Fenster. Ihre Mutter auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers schauderte. »Lass nicht die Kälte herein«, sagte sie und blickte hinüber, um zu sehen, was die Aufmerksamkeit ihrer Tochter erregt hatte. »Ach, das ist nur ein Schneeglöckchen«, sagte sie.
»Hab ich noch nie gesehen.«
»Kein Wunder. Wir haben ja auch keine.«
Morgan machte sich nicht die Mühe zu antworten. Sie ließ das Fenster auf, denn sie wollte das Schneeglöckchen sehen. Ein zarter, blassgrüner Spross, an dem eine perlweiße kleine Knospe baumelte, wie ein Tropfen Zahnpasta.
»Weißt du noch, wie alle Angst vor Weiß hatten?«, sagte sie.
»Ich nicht«, sagte Frau Shoe, die am Boden kniete. »Ich hatte keine Angst. Ich mag nur kein Weiß. Es muss zu oft in die Wäsche.« Sie sah an sich hinunter. Ihr Kleid war früher einmal blau gewesen, blau mit orangefarbenen Stockrosen. Jetzt war es praktisch weiß vom Waschen. Es war schwierig, seit man nicht mehr zu den Geschäften konnte. Sie zog rasch eine Schublade auf. Der süßliche Geruch nach Moder und Schimmel kitzelte in der Nase.
Aus einiger Entfernung drang eine Stimme durchs Fenster, nicht laut, aber klar. »Hier sieht alles ein bisschen schäbig aus, findest du nicht?«, sagte die Stimme. »Sag ihnen, sie sollen ein bisschen schmücken, Dotty.«
Natalie Shoe und ihre Tochter sahen einander an. »O Gott: Marge« , entfuhr es Natalie.
»Kein Herumlungern auf der Promenade« , riefen die Lautsprecher. »Macht Platz für Ihre Majestät Königin Marjorie!«
»Das Repräsentieren gehört zu unseren Aufgaben«, hörten die Shoes ihre Führerin sagen. Sie stellten sich mit dem Rücken an die Wand, rechts und links vom Fenster, so dass sie nicht
zu sehen waren. Sie waren immer dafür gewesen, Marjorie Goodself so zu nehmen, wie sie war, aber alles hatte seine Grenzen, fand Natalie Shoe.
Vorsichtig schielten die Shoes aus dem Fenster.
Zuerst erschienen zwei Robotritter mit perfekt aufgemalter Rotmützentracht. Sie führten riesige Hunde an der Leine, die mit düsterem Stolz an jedem Winkel schnüffelten. Dann kam Dotty Wallace, die Zeremonienmeisterin, und Herr Cuthbertson, der Elektrizitätsminister mit seinem bauschigen blauen Bonnet, der seiner Sekretärin eine Notiz diktierte.
»Da kommt sie«, murmelte Morgan.
Um den Halbmond herum kam Marge Goodself gerollt. Sie wurde immer dicker. Sie wirkte gequetscht unter dem Gewicht ihrer Edelstahlkrone. Hinterher wackelten zwei Pagen mit ihrem
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