Sonnenwende
Manchmal beneidete Tom ihn dafür. Er wäre auch gerne mal
nicht
nett und einfühlsam gewesen.
Weshalb Wladimir sich einen LKW geliehen hatte, um die Bücher seines Vaters abzuholen, klärte sich von selbst, als sie |15| die Wohnung betraten. König Otto hatte nicht nur in einer Bibliothek gearbeitet, er hatte in einer gelebt. Es war bedrückend. Kaum ein Quadratzentimeter Wandfläche, der nicht von Büchern bedeckt war. Selbst Handtücher und Teller in Bad und Küche mussten sich ihren Platz von Büchern streitig machen lassen. Im Schlafzimmer standen die Regale in Reihen und hielten das Bett in der letzten freien Ecke gefangen.
Die Wand hinter dem Konzertflügel im Wohnzimmer war Noten vorbehalten, Hunderten von Einzelausgaben und kleinen Heftchen. Tom stand wie vor einem Monument. Zuerst konnte er kein System erkennen, weil die Ausgaben nicht nach Komponisten geordnet waren. Als er sich zu vertiefen begann, erkannte er jedoch, dass sie nach Erscheinungsdatum angeordnet waren – aufgeschnürt wie Perlen auf dem Faden der Zeit. Als sei sie das einzig unumstößliche Kriterium, dem sich alles andere zu beugen habe. Daher auch keine Sammlungen: die hätten Stücke unterschiedlicher Entstehungsdaten enthalten. Wahllos zog Tom einen Band heraus – Scarlatti-Sonaten. Das Papier war alt, aber auffällig unbefleckt. Die Bindung knackte, als er die Seiten auseinanderdrückte.
Alexandra stand plötzlich hinter ihm. Irgendwie glitt sie lautlos durch die Wohnung, als hätte sie Luftkissen unter ihrem Rock. Er wollte etwas sagen.
»Die sehen alle so unbenutzt aus.«
»Er konnte nicht spielen.«
»Er konnte nicht spielen?«
»Nein.«
»Wozu dann die ganzen Noten?«
»Wenn er nicht las, hörte er Klaviermusik. Die Dinge, die er hörte, wollte er in gedruckter Form – als Buch, wenn du so willst.«
»Konnte er denn Noten lesen?«
»Auf seine Art schon, denke ich.«
|16| »Auf seine Art?«
»Er hätte wohl gesagt, er sieht etwas in ihnen.«
»Und er hat nie gespielt?«
»Nein.«
Tom stellte sich König Otto vor, wie er über einem Band mit Beethoven-Sonaten saß wie ein Kaffeesatzleser, und schwankte zwischen Hochmut und Hochachtung.
»Darf ich?«, fragte er und deutete auf den Flügel.
»Er gehört Wladimir«, sagte Alexandra.
Da Tom nicht wusste, wie er ihre Antwort zu deuten hatte, blieb er stehen, mit den Noten in der Hand. Er erwartete, dass sie etwas Erklärendes anfügen würde, aber sie lächelte nur entfernt und schwebte leise aus dem Zimmer. Genauso verschroben wie ihr König, dachte Tom.
Sie fuhren nachts zurück. Bereits am Nachmittag hatte sich unbemerkt ein Nieselregen eingestellt, der sie bis nach Berlin begleitete. Die Wischblätter waren zerschlissen, die Nacht verschwamm zu einem Kinderbild, dessen Farben ineinanderliefen. Tom wusste nicht, warum, aber er saß schon wieder in der Mitte. Die Sitzbank bot nur Platz für eine Hälfte seines Hinterns, die andere musste mit der Konsole vorliebnehmen und wurde langsam von der Hitze des Motors gegart. Wenn Wladimir schalten wollte, musste Tom zur Seite rücken. Sie fuhren mit offenen Fenstern. Die Heizung war kaputt, das hieß, man konnte sie nicht abstellen. Die Luft, die zu beiden Fenstern hereindrang, vereinigte sich über seinem Sitzplatz zu einer Windhose, in deren Auge er saß. Einmal wirbelte minutenlang ein Kaugummipapier um ihn herum. Versuchte er sich zu bewegen, wurde ihm entweder der Arm oder der Kopf weggerissen.
Paul und Wladimir unterhielten sich an ihm vorbei, während er in Gedanken versunken war, die ihn umkreisten wie das Kaugummipapier. Irgendwann fragte Paul, ob Wladimir sich vorstellen |17| könne, mit Alexandra ins Bett zu gehen. Da hakte Tom ein: »Tut mir leid, aber bevor ihr beiden darüber philosophiert, ob die Freundin von Wladimirs verstorbenem Vater zum Abschuss freigegeben ist, muss ich mal was loswerden: Ich fand es unmöglich, wie du bei Alexandra mit der Tür ins Haus gefallen bist! Sie zu fragen, ob Wladimir Mutti zu ihr sagt … Die hat gerade ihren Mann verloren!«
Paul: »Du meinst, ich hätte das lieber nicht sagen sollen?«
Tom: »Natürlich nicht. Das war völlig – entschuldige das Wort – pietätlos.«
Paul: »Wladimir?«
Wladimir zog die Schultern hoch: »Keine Ahnung. Schon möglich.«
Tom war müde. Morgen würden sie die mühsam eingeladenen Bücherkisten in Wladimirs Wohnung tragen müssen, eine schwerer als die andere. Er dachte an Helen, die er in Gedanken in Berlin gelassen hatte, und
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