Sonnenwende
daran, dass er morgen auch nicht wissen würde, wie es mit ihnen weitergehen sollte.
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|18| Helen
Tom wusste noch immer, was Helen an jenem Tag vor acht Jahren getragen hatte, und konnte sich an den Stand der Sonne und die langen Schatten auf ihrem müden Gesicht erinnern.
Er hatte Bekannte besucht, die auf der Suche nach dem kleinen Glück einen Kredit aufgenommen hatten, um sich in Lichtenrade eine Doppelhaushälfte zu kaufen. Ihr Teil des Gartens war gerade groß genug, um im Winter zwei Kisten Bier kalt zu stellen. Bereits auf der Hinfahrt war Tom komisch zumute gewesen. In diese Gegend hatte es ihn noch nie verschlagen. Die Straße war so weit vom Zentrum entfernt, dass man sie im Stadtplan wie zur Strafe auf einer Anschlusskarte in die Ecke verbannt hatte.
Stefanie begrüßte ihn mit Wangenkuss und einer Küchenschürze um den Bauch, Lars saß vorm Fernseher. Als Tom das Wohnzimmer betrat, schaltete er ihn widerstrebend aus. Er hatte zugenommen, ein Doppelkinn kündigte sich an. Durch die Terrassentür konnte Tom ihren dreijährigen Sohn Pascal sehen, der wie ein Hamster im Laufrad mit seinem Bobbycar Rillen in den Rasen fuhr, das Steuer am Anschlag. Über dem dritten Stück selbstgemachtem Pflaumenkuchen mit Sahne hielt es Tom nicht länger aus: »Meint ihr nicht, er sollte auch mal in die andere Richtung fahren?«
Lars: »Hab’ ich auch schon überlegt, aber er mag es so.«
Kurz darauf erfand Tom einen Vorwand und verabschiedete sich. Als er seinen Wagen aufschloss, wagte er nicht aufzublicken. Er war sicher, dass Stefanie mit dem winkenden Pascal |19| auf dem Arm am Küchenfenster stand, und wollte ihnen sein trauriges Gesicht ersparen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er Helen, die vor dem Jägerzaun des Nachbarhauses einen Stadtplan studierte. Sie stand neben einem Koffer, der größer war als sie selbst, und sah genauso aus, wie Tom sich gerade fühlte. Wenn er sie hier alleine zurückließe, wäre sie verloren. Ihre schlanken Schultern zeichneten sich scharf durch die weiße Bluse ab, und ihre Handgelenke waren so schmal, dass er sich fragte, wie sie den Koffer ohne fremde Hilfe bis hierher hatte bewegen können. Ihr verletzliches Gesicht war von Sommersprossen bedeckt, und überall hatte sie kleine Leberflecken. Ihr Schwanenhals lief in ihre Schultern wie Honig. Er ging zögerlich auf sie zu, als könne sie jeden Moment davonspringen.
»Äh … Hallo.«
Sie war neu in Berlin, frisch eingetroffen. Sie hatte sechs Stunden Zugfahrt hinter sich, eine falsche U-Bahn, zwei S-Bahnen und einen Bus. Zum Monatsanfang sollte sie ihren ersten Job als Krankenschwester antreten, bis dahin hoffte sie, eine Wohnung gefunden zu haben. In der Zwischenzeit würde sie bei Freunden ihrer Eltern wohnen, die hatten ein Haus in der Mozartstraße, nur leider nicht in dieser.
»Wo musst du hin?«
Sie schaute angestrengt auf ihren Stadtplan.
»Ich weiß nicht genau, es gibt mehrere … Zwei kommen in Frage, die hier und … die.«
»Hast du eine Telefonnummer?«
»Ja, hier auf dem Zettel. Aber nur Festnetz.«
»Wie fängt sie an?«
»Sieben, neun, drei …«
»Eine Sieben am Anfang könnte Steglizt sein. Müsste die hier sein.«
Tom zeigte ihr die Stelle auf der Karte. Es lag nicht gerade |20| auf seiner Strecke, war aber auch kein großer Umweg. Vierzig Minuten, höchstens.
»Dann fahre ich am besten mit der S-Bahn zurück bis … Anhalter Bahnhof, und dann mit der S1 …«
»Ich kann dich vorbeifahren, liegt auf meinem Weg.«
»Wirklich?!«
»Klar, ist kein Problem. Wirklich.«
»Das fängt ja gut an.«
Zwei Tage später schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Es fing wirklich gut an. Tom hatte sie in ein thailändisches Restaurant eingeladen und sie ihn während des Nachtischs mit ihrer Philosophie überrascht, dass, wenn zwei miteinander Sex haben sollten, sich das spätestens bei ihrem dritten Treffen entschied. Da sie sich am Vortag bereits zum Kaffee getroffen hatten, hieß das: »Du musst dich also heute entscheiden.«
Hinter ihrem Rücken drehten zwei verliebte Buntfische in einem Aquarium ihre Runden. Aus Toms Perspektive sah es aus, als würden sie auf der einen Seite in Helens Kopf hinein- und auf der anderen wieder herausschwimmen.
Tom: »Was ist
mit dir
?«
»Ich hab’ mich schon gestern entschieden.«
»Ich habe nichts außer Kaffee, keine zweite Bettdecke und nur eine Zahnbürste.«
»Brauchen wir mehr?«
Das hatte Tom mächtig imponiert; sonst war sie gar nicht
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