Sonnenwende
mutig.
»Möchtest du was trinken?«, fragte er, nachdem er ihre Jacke aufgehängt hatte.
»Ich dachte, du hast nichts da.«
»Stimmt.«
Sie ging ins Schlafzimmer.
»Hast du keine Kerzen?«
|21| Tom fand eine angestaubte Packung mit Teelichtern, die Helen im Zimmer verteilte und anzündete. Etwas zu sakral für Toms Geschmack, aber nicht ohne Wirkung: Das Bett trieb auf einem See aus Licht. Von hinten schlang er seine Arme um sie und küsste ihren Hals. Sie führte einen Arm über ihre Schulter und streichelte zärtlich seinen Kopf.
Helen: »Setz dich.«
Sie stand am Fußende des Bettes und entblätterte sich nach und nach. Schwarze Spitzenunterwäsche kam zum Vorschein, die trug sie sicher nicht jeden Tag. Sie schien Vertrauen in ihre Philosophie zu haben. Ihr Körper glänzte wie Seide und fühlte sich an wie warmes Leder. So etwas hatte Tom noch nie berührt; neben ihr kam er sich unförmig und spannungslos vor. Und überall diese kleinen Leberflecken, die ihn, er wusste es schon jetzt, immer faszinieren würden. Ihre spitzen Brüste reckten sich selbstbewusst, und unaufhörlich bewegten sich ihre Muskeln unter der Haut. Er musterte sie und begann zu lächeln.
»Was ist?«, fragte sie.
»Deine Brüste sind hochnäsig.«
»Dann musst du ihnen Manieren beibringen.«
Der Sex mit ihr war zärtlich, verhalten und vorsichtig, und als sie kam und die Anspannung in einem langgezogenen Stöhnen aus ihrem Körper entwich, fühlte Tom sich beschenkt. Es war so, wie ihre Beziehung werden sollte: innig und liebevoll, aber niemals leidenschaftlich.
Helen erzählte ihm, dass sie Turnerin gewesen war, es aber nie bis nach oben geschafft hatte, weil sie einfach ein paar Zentimeter zu groß war und sich mit fünfzehn die Wirbelsäule ruiniert hatte. Sie zeigte ihm Fotos von Meisterschaften. Auf einem Zeitungsausriss war sie in der Schlussposition einer Kür mit dem Band zu sehen. Sie stand auf einem Bein, das andere senkrecht in der Luft, ihr Oberkörper so weit nach hinten |22| gebogen, dass sie mit der freien Hand die Fessel des Fußes umfassen konnte, auf dem sie stand. Die andere Hand hielt den Stab wie einen Taktstock, das blaue Band umrahmte sie wie eine schimmernde Girlande. Es war perfekt.
Tom half ihr, eine Wohnung zu suchen. Bis sie eine gefunden hatten, arbeitete Helen natürlich längst und hatte keine Zeit mehr, also renovierte er sie auch gleich. Ihre Dankbarkeit war der süßeste Lohn, den er sich denken konnte. Neun Monate lang waren sie keine Nacht voneinander getrennt. Die Vorstellung, einmal nicht in den Armen des anderen einzuschlafen, war beklemmend. Sie versuchten es gelegentlich, um ihre Selbständigkeit zu demonstrieren, scheiterten aber regelmäßig, weil einer dann doch zum Handy griff – meistens Helen – und eine SMS schrieb: »Willst du nicht noch vorbeikommen?«, während der andere schon auf die SMS gewartet hatte – meistens Tom. Zu zweit waren sie unschlagbar. Sie malten sich aus, wie es sein würde, gemeinsam alt und schließlich von den gleichen Würmern zerfressen zu werden.
Wenn Helen keinen Dienst hatte, gingen sie samstags zusammen auf den Markt und schlürften anschließend, von Tüten umringt, im »No. 8« zwei Milchkaffees. Danach eilten sie in Helens Wohnung, schliefen miteinander, um für Stunden nackt in Löffelstellung zu träumen, wieder miteinander zu schlafen und dann die Tüten auszupacken und das Abendessen vorzubereiten. Es fühlte sich unsterblich an.
Einmal jonglierte er vor dem Gemüsestand mit drei Avocados für sie. Als er versuchte, hinter dem Rücken zu jonglieren, flog eine der Avocados an seiner Hand vorbei und zerplatzte auf dem Fahrradlenker eines völlig konsterniert dreinblickenden kleinen Mädchens. Unter den Augen der Schlangestehenden beugte sich Tom zu ihr hinab: »Sag mal, was machst du denn für Sachen! Du kannst mir doch nicht einfach meine Avocado wegnehmen!«
|23| Er hob die zermatschte Frucht vom Boden auf und ergänzte mit Blick auf die verschmierte Klingel: »Na gut, den Rest darfst du ablecken.«
Zwei Stände weiter warf ihm Helen ihre Arme um den Hals und küsste ihn.
»Du-u?«
»Ja-a?«
»Hast du gerade versucht, mich zu beeindrucken?«
»Ich? Niemals.«
»Ich liebe dich.«
»Wie recht du hast.«
»Ich glaube, heute ist mir nicht nach Kaffee.«
»Konnte ich noch nie leiden.«
Und dann reckte sie sich zu ihm empor und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das er niemals vergessen würde: »Ich hätte dich nicht zu träumen
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