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Sonntag bis Mittwoch

Sonntag bis Mittwoch

Titel: Sonntag bis Mittwoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Hayes
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meinst, daß ich bin, das bin ich nicht!« Er lacht – ein Gackern im Falsett. »Das ist der größte Witz: Nichts ist, was es ist, weil es einfach nicht da ist.« Ob er mich nun wahrnimmt oder nicht, er geht auf mich zu, tritt mit seinen nackten Füßen auf die Glasscherben am Boden, aber scheint es nicht zu merken. »Das ist der Witz, begreifste nich, alles muß das Gegenteil sein, sonst existiert es nicht, was es sowieso nicht tut; nun hör mal zu, wenn jemand das in der Hand halten könnte, die Gegenteile, stell dir vor, denk nur, als hätte man Feuer und Eis in der Hand, Luft und Wasser, Gestern und Morgen, Raum und Zeit, oder …« Dann brüllt er mir ins Gesicht: »Sag, daß du's verstehst, verdammt, laß mich nicht von denen auf der Straße erwischt werden, sie sollen mich nicht schlagen, auch wenn ich es verdiene, verliere, verlasse. Gott, sag mir, daß du's begreifst!«
    Ich verstehe, daß alles das Gegenteil ist; Jahrhunderte der Evolution wurden mit einer Handbewegung ausgelöscht. Ich verstehe, daß Rückschritt Wahnsinn ist. Ich verstehe, daß du, Wilby, verrückt bist. Und ich verstehe, daß ich mit einem bißchen Glück weder die Kapsel noch die Zuckerstückchen brauche, weil nun jeder erkennen kann, daß du –
    »Sag's mir. Wirst du, wird irgendwer, sag mir, daß du verstehst!«
    Ich höre die unverhüllte, entsetzliche Verzweiflung in seiner Stimme, sehe sie in seinen angstumdunkelten Augen. Und Trauer dämpft meine Hoffnung.
    »Natürlich verstehe ich.«
    Stille, doch nur kurz. Ehe ich darauf vorbereitet bin, reißt er die Waffe hoch und schmettert sie mit lähmender Wucht auf meine Schulter. Ich höre sie sogar am Ohr vorbeisausen, ehe ich den Schlag spüre und beiseite torkle.
    »Lügner!« heult er auf. »Lügner. Niemand versteht's, niemals, du schlauer, verlogener Hund!«
    Schmerzgekrümmt schleppe ich mich zur Bar, packe mit der Linken eine Whiskyflasche am Hals, wobei der Schmerz in die rechte Schulter und die verletzte Hand und meine Brust schießt, daß mir schwarz vor Augen wird, und versuche, mich gegen den nächsten Angriff zu wappnen.
    Doch Wilby schlurft von mir weg, watet mit den nackten Füßen in den Trümmern herum in einem unsteten, ziellosen Halbkreis. Hat er mich bereits vergessen?
    Ich habe keine andere Wahl mehr. Falls ich nicht durch ein Wunder wieder in den Besitz der Waffe komme, muß ich die Kapsel anwenden. Es wirkt in einer Stunde und läßt Ihnen eine Menge Zeit, diesen Schwulen aus der Wohnung zu schaffen. Und wenn ich ihn nicht aus der Wohnung kriege, dann soll er eben hier sterben. Kein Mitleid mehr. Keine Gnade mehr. Die Umstände beschränken die freie Wahl etwas, machen sie aber nicht zunichte.
    Meine gefühllosen, dicken Finger greifen in die Kleingeldtasche, bekommen die Kapsel zu fassen. Ich stelle die Flasche ab und hole mit der Linken zwei Gläser.
    In der hinteren Zimmerhälfte dreht sich Wilby abrupt um und kommt jetzt nicht mehr schwankend, sondern mit seinem flotten, wiegenden Seemannsschritt auf mich zu. Er hält inne, ehe er spricht: »Mann, du weißt nich, was dir bevorsteht, was?« Ich erkenne das heimliche Vergnügen, dem natürlich wieder eine seiner Grausamkeiten folgen wird, und gieße in beide Gläser Whisky. »Du und ich, Mann, wir werd'n hierbleiben und auf die Frau Gemahlin warten. Wie gefällt dir das?« Doch sein Grinsen ist leer, der Spott hohl und sein Triumph schwach und unecht.
    Vor seinen Augen fummle ich hinter der Bar mit ungeschickten Fingern herum, um die Kapsel zu öffnen, spüre das Pulver in der Handfläche und praktiziere es in ein Glas. Er hat in die Wirklichkeit zurückgefunden, jedenfalls in seine Version der Wirklichkeit. Habe ich ihn aus der Unterwelt des Wahnsinns durch mein Geständnis, daß ich verstünde, zurückgerissen? Wie konnte man bei seinem Geisteszustand jemals sicher sein?
    »Wir warten beide hier, Paps, bis das Aas hereinspaziert.« Locker auf gespreizten Beinen wippend, den Kopf seitlich geneigt, die Arme herabhängend: eine lächerliche Karikatur seiner selbst. Dann kommt er mit ein paar schnellen Schritten zur Bar. »So machen wir's, Mann. Sie kommt herein, und ich lass' dir die Wahl. Wer kriegt's zuerst? Wer guckt zu, wie's den anderen erwischt?« Augen unverwandt auf mich gerichtet: glasig, aber mit einem wilden, selbstzufriedenen Flackern. »Kannst's dir aussuchen. Schaust du zu, oder schaut sie zu. Wer von euch, Mann?«
    Die Krönung aller Grausamkeit. Die schlimmste vorstellbare Folter.

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