Sonntag bis Mittwoch
mich.
»Meinste, ich bin nich kühl … kühl wie du –« Er zieht mit dem Daumen den Schlagbolzen zurück, der Zylinder dreht sich um eine Kammer.
»Sag, wann ich abdrücken soll, Mann –«
Eins zu fünf: die besten Aussichten bis jetzt. Mach weiter, Wilby. Du armer, kranker, grausamer Bastard, mach schon, damit wir es hinter uns haben.
»Wenn du mich haßt, sag wann!« Seine Stimme, ein dünner gespannter Schrei, mitleiderregend und flehentlich und verzweifelt. »Sag schon!«
Wenn ich annehmen könnte, er würde es tun, dann gäbe es kein Zaudern. Statt dessen sage ich: »Ich hasse Sie nicht, Wilby.« Eine Lüge: Ich habe noch nie einen Menschen mehr gehaßt.
»Sie tun mir leid.«
Die Wahrheit – die einzige Wahrheit, die er nicht ertragen kann. Oder von der ich hoffe, daß sie ihm unerträglich ist.
Er schließt die Augen.
Ein paar Sekunden verstreichen.
Dann: Ein Klicken.
Er hat den Abzug durchgezogen, der Schuß ist nicht losgegangen, und er lebt noch. Und in der Trommel steckt noch immer eine Kugel. Und Lydia kommt.
Kein Schatten huscht über sein Gesicht – weder Enttäuschung noch Überraschung, noch Erleichterung. Als er endlich die Augen aufschlägt, erblicke ich darin Benommenheit, aber gleichzeitig eine gespenstische Exaltiertheit, die mir einen kalten Schauder über den Rücken jagt.
Und als er die Waffe sinken läßt – sehr langsam, als sei die Handlung von mythischer Tragweite, Teil eines geheimnisvollen Rituals – und zu sprechen beginnt, liegt in seiner Stimme ein neuer Unterton: Staunen und Schrecken. »Ich wußte es. Ich wußte es. So sei es, Vater.« Und sein Gesicht wirkt trotz der Kratzer und Spuren geronnenen Bluts geläutert, wie das eines Märtyrers. »So sei es, Vater. Dein Wille geschehe.«
Während es mir wie mit einer eisigen Hand den Rücken hinabstreicht, kann ich ihn nur schweigend und grübelnd anstarren: Was bedeutet das nun?
Er kommt auf mich zu, fast schwebend, den Blick nicht auf mich gerichtet, sondern auf einen Punkt oder eine Vision hinter mir.
Ich beobachte, wie er die Hand mit dem Revolver hebt. Dann sagt er im gleichen exaltierten Tonfall: »Du bist dran.« Er legt die Waffe auf die Bar und zieht die Hand zurück.
Trotz meiner Verblüffung zögere ich nicht. Mit einer einzigen Bewegung setze ich das Glas ab, ergreife die Waffe und trete zurück. Da erst packen mich Schreck und Erkenntnis. Und mich durchläuft eine große Erleichterung, heiß und in Wellen.
Nun scheint sein Blick mich zu erfassen. Er lächelt schwach. »Jetzt bist du dran.«
Die Logik hinter seiner Geste ist einleuchtend. Ich weiß natürlich, was er will, was er erwartet. »Das Spiel ist aus«, antworte ich, ungewiß, ob er mich hört. Mein Blick fällt auf das Glas mit dem vergifteten Whisky: Ist das noch nötig? »Mein Leben ist alles, was ich besitze. Das setze ich nicht mutwillig aufs Spiel.« Nicht, daß er das von mir erwartet: Bewußt oder unbewußt will er, daß ich die Waffe gegen ihn richte.
»Dieses Leben? Aber dieses Leben ist nur … was ist das Leben im Vergleich zur Ewigkeit?«
Ewigkeit? Dieser Schock trifft mich tief. Wer ist dieser Mensch, der mich von der anderen Seite der Bar betrachtet? Ist es der Junge, der von Ängsten und Widersprüchen gequält wird, weil er weiß, daß er nicht unsterblich ist? Eine andere Persönlichkeit, der Schatten einer anderen Person scheint diesen Körper übernommen zu haben.
Und doch bleibt es der alte Wilby. Denn nun sagt er: »Alles für die englische Frau –« Und während ich den Revolver fester umklammere, bereit bin, fährt er in einer reuigen Verzweiflung fort, die ihm gar nicht ähnlich sieht. »Eine Hure und eine Verschandelung der Erde. Wie alle Frauen. Wie Eva. Die Hure von Babylon –« Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, daß Wilbys Ansichten über Frauen von denen der Bibel nicht so verschieden sind.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr: elf Minuten nach zehn. Ist er schon weit genug hinüber, daß jeder, selbst ein Streifenpolizist erkennen kann –
»Sie hat ihren Körper auf den Straßen von London verkauft!« ruft er aus – mit erhobenem Gesicht, glitzernden Augen, wie einer der fanatischen Propheten des Alten Testaments. »Die Hure hat dich in tausend Betten betrogen, in tausend dunklen Nächten!«
Es ist Wilby, und doch ist er es nicht. Hinter dem feurigen Propheten ist noch immer der homosexuelle Frauenhasser, der verratene, zornige Junge, der mich dazu provozieren will, ihn umzubringen.
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