Sophie Scholl
Deinen klaren Blick dahin zu lenken, wo für mich das Erstrebenswerte des Menschen ist.« Es ist ein Schlüsselsatz, der die Missverständnisse, die Verwirrungen und Traurigkeiten dieses Briefwechsels im letzten Viertel des Jahres 1940 auf den Punkt bringt und auflöst, ohne dass Sophie Scholl sich dessen bewusst ist. Sie will Fritz Hartnagel auf das gleiche Ziel verpflichten, das sie sich gesteckt hat, und damit sein Bestes. Aber vielleicht sind andere Ziele für ihn besser und erreichbarer?
Auch Sophie und Fritz geht es wie allen, deren Streit eskaliert. »Es liegt wohl ein großes Missverstehen vor uns, aber ich möchte sagen, es liegt an Dir, denn Du kannst oder willst mich nicht verstehen. Glaubst Du denn, dass man zwei Herren dienen kann«, wirft Sophie Scholl Mitte Dezember Fritz Hartnagel vor. Ihren Verweis auf das Mönchs-Ideal hatte er mit dem Vorwurf pariert, sie wolle ganz auf menschliche Wärme verzichten. Nein, sie will nicht auf die Wärme des Menschen verzichten, sagt sie, das sei ein Missverständnis. Aber dann wird es spannend: »Ich weiß nicht, und ich zweifle fast daran, dass ich es je kann. Ich überschätze mich nicht. Aber ich möchte es können.« Und spitzt diesen Wunsch noch weiter zu: »Aber ich glaube, erst an überwundenen Dingen findet man seinen Genuss.«
Gefühl und Begehren: Damit hat Sophie Scholl direkter als je zuvor ausgesprochen, was sie umtreibt. Fritz Hartnagel fühlt sich in diesem Punkt schon lange falsch verstanden: »Vielleicht meinst Du, dass ich nur die körperliche Wärme, etwas Sinnliches bei Dir suche. Wenn ich mich auch manchmal dagegen wehren muss, so ist es doch etwas ganz anderes, was mich an Dich bindet … etwas seelische Wärme und Herzlichkeit.« Noch einmal benennt Fritz Hartnagel im Dezember offen ihre unterschiedlichen Vorstellungen in Bezug auf Sexualität. Er wehrt sich gegen Sophie Scholls Vorwurf, er wolle »an unserem alten Verhältnis festhalten, oder vielmehr ein solches Verhältnis anstreben, das mir lange Zeit mein sehnlichster Wunsch war. Aber nachdem ich weiß, dass es nicht sein kann, habe ich versucht, es zu überwinden«. Es ist schon vor der Krise des Jahres 1940 ein wiederkehrendes Thema zwischen den beiden gewesen; eines, in dem sich Sophie Scholl ebenfalls Klarheit wünschte, Ziele setzte und verfehlte, hin und her gerissen zwischen – ja, zwischen was? Die Antwort ergibt sich aus einer Frage am Ende ihres Briefes, in dem sie den »Genuss an überwundenen Dingen« preist: »Glaubst Du nicht, dass das Geschlecht könnte vom Geiste überwunden werden?« Eine Frage wie eine Verheißung, eine Erlösung.
Was auffällt in diesen Wochen, weil es zuvor nicht zu Sophie Scholls Wortschatz und Argumentation gehörte, ist das christliche Vokabular und der Bezug auf das christliche Bild vom Menschen. Ihre Beziehung soll über »etwas höheres« laufen, Fritz Hartnagel soll nicht zwei Herren dienen. Am 24. November mahnt sie ihn: »Wie schnell kann man eine scheinbar sichere Heimat bei Menschen verlieren. Man soll unvergängliche Dinge nicht im Vergänglichen suchen.« Wer denkt da nicht an die »ewige Heimat«, die Christen bei Gott und im Jenseits suchen? Das Ideal vom Mönchsleben und die asketische Vorstellung, nur was man überwunden habe, könne wahren Genuss bereiten, erinnern an christliche Vorstellungen von Sünde, Reinigung und Erlösung – an katholische Traditionen.
Hans und Inge Scholl wurden 1933 konfirmiert; Sophie Scholl hatte sich 1937, als es nicht mehr opportun war, für die Konfirmation entschieden. Woher kommt ihre Faszination für Askese und Mönchsleben, Ideale der katholischen Konfession, die protestantischen Vorstellungen entgegenstehen? Lina Scholl, die ehemalige Diakonisse, hat ihren Kindern einen weitherzigen, toleranten Protestantismus vorgelebt. Aber Sympathien für den Katholizismus haben sich bei den Scholl-Geschwistern bisher nicht bemerkbar gemacht. Die Spur führt zu Otl Aicher, jener »außerordentlich eigenartige und schweigsame« Gast, der sich seit dem Herbst 1939 immer häufiger bei den Scholls am Münsterplatz einfand. Bald kein Gast mehr, sondern ein Teil der Familie.
Nachvollziehbar wurde die Bedeutung von Otl Aicher, dem Gleichgesinnten, Anreger und Motivator im Aicher-Scholl-Bund, bisher erst ab dem Jahre 1941, weil es keine früheren Dokumente über seine Beziehungen zur Scholl-Familie und Menschen in deren Umkreis gab. Im Nachlass von Inge Aicher-Scholl hat sich der Beginn des Briefwechsels zwischen
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