Sophie Scholl
den Scholl-Geschwistern einbrachte. Es liegt auf der Hand, dass er sein Wissen und seine Begeisterung für Augustinus im Laufe des Sommers 1940 Inge und Sophie Scholl mitteilte. In einem Brief von Inge Scholl gibt es nun für einen intensiven Kontakt zwischen ihm und den beiden Schwestern einen konkreten Hinweis.
Am 19. Juli 1940 schreibt Inge an Hans Scholl: »Lieber Hans, gestern abend war ich mit Otl und Sofie in der Söflinger Kirche zum Orgelspielen. Nachher, so hatte ich mir vorgenommen, wollte ich Dir schreiben. Aber die Zeit auf der Orgel ging so unmerklich dahin, dass der Brief auf heute morgen aufgeschoben.« Über das Orgelspiel von Sophie und Inge Scholl muss es ein langer Abend geworden sein in der barocken Klosterkirche Mariä Himmelfahrt auf dem ehemaligen Klostergelände in Ulm-Söflingen, in der Pfarrer Franz Weiß viele Jahre predigte, bis er am Karfreitag 1939 von der Gestapo verhaftet wurde. Der imponierende katholische Pfarrer, zu dessen Gemeinde die Familie Aicher gehörte, hatte Otl Aichers Welt- und Menschenbild entscheidend mitgeformt.
Was liegt näher, als dass die Drei in der Kirche, im Pfarrgarten und der weitläufigen Klosteranlage über Gott und die Welt reden und die Ideale, auf die man in diesen Zeiten bauen kann. Otl Aichers Kenntnisse und seine gelebten Überzeugungen sind eindrucksvoll. Das anfängliche Misstrauen bei den Scholl-Geschwistern, der neue Freund wolle sie zum Katholizismus bekehren, ist der Bewunderung gewichen. Da ist einer, der einen »festen Boden« außerhalb aller menschlichen Beziehungen hat, das Christentum katholischer Prägung – das ist einfach beneidenswert. Die Scheu der Protestanten, sich in einer katholischen Kirche wohlzufühlen, ist verflogen. Inge und Sophie Scholl haben mehr als einmal in diesem Sommer mit Otl Aicher in Mariä Himmelfahrt zum Orgelspiel gesessen. In ihren Brief an Hans Scholl packt Inge Scholl eine kleine Mundharmonika: »Wenn wir dann an der großen Orgel sitzen, denken wir an Dich und Deine kleine Mundorgel.«
Bei aller Überzeugungskraft, die Otl Aicher entfalten konnte: Sophie Scholl ist keine, die ihren Verstand vor lauter Begeisterung ausschaltet. Das Denken hat Vorrang, diese Einstellung gehört zu ihrer Persönlichkeit. Sie lässt sich Lebens-Werte nicht kritiklos überstülpen. Wenn sie sich das radikale augustinische Liebes-Ideal zu eigen macht und von Fritz Hartnagel Gleiches fordert, dann steht eigene Überzeugung dahinter. Nachdem sie schon mehrmals versucht hatte, ihre Beziehung zu Fritz Hartnagel zu verändern, was sich in der Realität des Zusammenseins nicht bewährte – ich bin zu jung, ich will mich nicht aufgeben für Dich –, muss das, was Otl Aicher ihr vermittelte, bei Sophie Scholl einen tiefen Widerhall gefunden haben. Als ob die Neunzehnjährige endlich den richtigen Schlüssel zu einem wichtigen Raum ihrer selbst gefunden hatte.
Am 27. Dezember 1940 schreibt Fritz Hartnagel einen langen Brief an Sophie Scholl. Er hat viel Zeit an diesem zweiten Weihnachtstag. Mit Sophie, ihren Geschwistern, Freundinnen und Freunden über den Jahreswechsel gemeinsam in die Ski-Ferien zu fahren, hat er abgelehnt, weil er sich diesmal »wie ein Fremder« vorkommen würde. Noch einmal stellt er die Missverständnisse und ihre unterschiedlichen Meinungen gegeneinander. Ja, auch er ist überzeugt, dass »die Liebe nur Sinn hat, wenn etwas Höheres darübersteht«. Sophie Scholls wegweisende Gedanken sind nicht ohne Einfluss geblieben. Aber dass eine Freundschaft »nur Schwäche ist«, will er nicht akzeptieren. Am Ende jedoch schmelzen seine Forderungen zu einer anrührenden, verzweifelten Bitte: »Liebe Sofie, wenn es Dir möglich ist, dann mach bitte dieser Ungewissheit und diesen Zweifeln ein Ende, ganz gleich welches.«
Was er nicht weiß: dass Sophie Scholl am 13. Dezember an Lisa Remppis geschrieben hat, wie sie den Stand ihrer Beziehung zu Fritz Hartnagel nach dem Auf und Ab der letzten Wochen beurteilt. Ihm sei die endgültige Trennung inzwischen bewusster geworden und soviel sie sehe, gereiche ihm das zum Guten: »Man sieht viel tiefer, wenn man für seine Sehnsucht nicht Zuflucht bei einem Menschen sucht.« Da sie mit Lisa offen reden kann, fügt sie hinzu, es handle sich um eine »gewisse Kraftprobe«. Sophie Scholl nimmt einen Lichtstreifen am Horizont ihrer Beziehung wahr. Die bittere Medizin, die sie Fritz Hartnagel verabreicht hat – in der Überzeugung, für sie und ihn das Beste zu tun –, zeigt nach
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