Sophie Scholl
ihrem Eindruck Wirkung. Sie muss nur bei ihrem Härte-Konzept bleiben, nicht schwach werden. Dann wird die Kraftprobe in ihrem Sinn entschieden. Die »endgültige Trennung« bedeutet für sie nicht »aus den Augen, aus dem Sinn«, sondern eine neue Verbindung von Mensch zu Mensch, in der jeder dem anderen seine Freiheit lässt.
Mit diesem optimistischen Ausblick geht Sophie Scholl in ein neues Jahr – sie fühlt keine Müdigkeit, sie will leben. Lisa Remppis soll ihren Eltern sagen, die Scholls hätten eine Unterkunft für die Ski-Ferien gefunden. Berge, Sonne, Schnee und der Rausch der Abfahrt ins Tal. Inge, Hans, Werner und Otl würden auf jeden Fall dabei sein, und Sophie hofft fest, dass Lisa mitkommt – »ich freue mich sehr darauf«.
DEM HÖHEREN ZIEL ENTGEGEN
Januar bis März 1941
Gut zwei Wochen nach der Rückkehr von der Ski-Hütte war Lisa Remppis noch ganz erfüllt von dem gemeinsamen Beisammensein in den Bergen, ohne genau sagen zu können, warum: »Mir ergeht’s eigentlich auch so wie Dir, die Tage im Gebirge haben einem irgendetwas gegeben, was nur uns gehört, man kann es wohl erzählen, aber verstehen vermag niemand recht, was denn so Besonderes daran gewesen sei, und gerade das gibt solchen Halt.« In der Zwischenzeit war sie in Stuttgart im Konzert, wo eine Mozart-Symphonie gespielt wurde: »Da ist mir alles wieder aufgegangen, unser Aufstieg am letzten Tag und dann die Abfahrt, es war, als sei die ganze Begeisterung, die wir empfunden haben, in Musik ausgedrückt.« Sophie Scholl, an die Lisas Brief am 19. Januar 1941 gerichtet ist, hatte drei Tage zuvor Fritz Hartnagel von den Ski-Ferien auf 1800 Meter Höhe im Lechtal berichtet. Inge, Hans, Sophie und Werner Scholl mit Otl Aicher und Willi Habermann hatten eine Hütte für sich allein, ernährten sich von Tee und Brot und übten tagsüber im tiefen Schnee »heftig« Telemark, den schneidigen norwegischen Ski-Stil. Hinaus in die frische Luft ging es morgens relativ spät, weil sie am Abend spät ins Bett kamen. Dann saßen alle zusammen um den Tisch und lasen gemeinsam das »Tagebuch eines Landpfarrers« des französischen Schriftstellers Georges Bernanos, 1938 in deutscher Übersetzung erschienen.
Das »Tagebuch« ist keine leichte Kost. Es erzählt von einem jungen Priester, der die Pfarre eines Dorfes betreuen soll, das im Elend versinkt. Seine kirchlichen Vorgesetzten glauben nicht an das, was sie verkünden. In Welt und Kirche ist das Böse mächtig. Wie kann er, krank, einsam und immer wieder von Verzweiflung und Ängsten geschüttelt, etwas ausrichten? Äußerlich ist er ein Versager. Doch unerschütterlich hält der Landpfarrer an drei Dingen fest, die ihm Sicherheit und Geborgenheit geben, jenseits von Menschen und Dingen: am Gebet, auch wenn ihn beim Beten völlige Leere umgibt; an seinen körperlichen Leiden als Sühne für die Sünden anderer; am Glauben an Gott, der die absolute Liebe ist. Sophie Scholls Urteil über dieses Buch steht fest: »Ich jedenfalls möchte es einmal besitzen.« Und weil Fritz Hartnagel in Frankreich stationiert ist, empfiehlt sie ihm ironisch: »Wenn Du von ihm etwas bekommen könntest … Er erscheint in Deutschland nimmer, da er ein lebender Franzose ist.«
»Das Tagebuch eines Landpfarrers« ist ein Meisterwerk der modernen französischen Literatur. Georges Bernanos zählte zu den angesehenen Schriftstellern einer Bewegung, die in Frankreich seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter der Bezeichnung »Renouveau Catholique« Theologen, Künstler und Intellektuelle zusammenführte; viele von ihnen konvertierten zum Katholizismus. Sie kämpften für einen erneuerten Katholizismus und erhofften für ihr Land, dessen Entchristlichung sie beklagten, eine Art katholische Wiedergeburt.
Der Renouveau Catholique wurde zur tragfähigen Brücke, auf der sich die Scholl-Geschwister, ohnehin von französischer Literatur begeistert, mit Otl Aicher zu gemeinsamer Lektüre und zum intensiven Gedankenaustausch treffen konnten, auch wenn sie aus verschiedenen Richtungen kamen. Kein Zufall war, dass Otl Aicher die Gesprächspartner über diese Bücher unmerklich in eine bestimmte geistige Richtung lenkte. In den dreißiger Jahren fanden die Autoren des Renouveau Catholique auch großes Interesse bei Katholiken in Deutschland, die sich eine erneuerte, aufgeschlossene Kirche wünschten, ohne sich dem Zeitgeist anzupassen. Im Bücherschrank des Söflinger Pfarrers Franz Weiß und bei seinem Freund, dem Kaplan Bruno
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