Sophie Scholl
Otl Aicher und Ernst Reden und ein Brief erhalten, der die freundschaftlich-geistige Verbundenheit auch mit Sophie Scholl bis in das Jahr 1940 zurückführt. Diese Quellen machen es erstmals möglich aufzudröseln, wo Sophie Scholls Sehnsucht nach einer geistigen Beziehung zu Fritz Hartnagel und ihr Versuch, auf körperliche Liebe zu verzichten, ihren Ursprung hat. Ihre neuen Ideale sind nicht vom Himmel gefallen.
Im Frühjahr 1940 lernte Otl Aicher in der Wohnung am Münsterplatz Ernst Reden kennen, Inge Scholls Freund, zu dem sie eine »innige Beziehung« hat. Zwischen dem Achtzehnjährigen und dem Sechsundzwanzigjährigen entsteht ein intensiver Briefwechsel. Ende August 1940 gesteht der eher wortkarge Otl Aicher dem »guten Ernst« mit pathetischen Worten seine Gefühle: »Du treibst mir Tränen in die Augen … Was kann ich für Dich tun?! Alles scheint mir zu gering.« Ernst Reden, der Protestant aus Köln, der Schöngeist und Suchende, fasziniert Aicher, und zugleich ist er für ihn eine Herausforderung: einen weiteren Menschen für seine Wahrheit zu gewinnen. Im Licht dieser Wahrheit, die nichts anderes als Gott ist, kann Otl Aicher auch Ernst Reden seine Liebe gestehen und in höhere Sphären heben: »Ich liebe Dich nicht, wie die Liebenden bei Rilke; so liebe ich Dich, dass ich um eines Dinges willen an Dir hänge, das über uns beiden steht, und das eben ist die Wahrheit. Anders darf ich keinen Menschen lieben.«
Die Freundschaft aus Liebe zwischen Otl Aicher und Ernst Reden vollzieht sich nicht direkt, sondern nach Aichers Überzeugung über einen anderen: »Gott ist eine Brücke! Auch die unsere möge er sein, neben den etlichen Briefen, die wir schreiben können. … Wir werden uns auch nicht mehr allein lassen können, wenn wir durch Gott Freunde sein werden, und das sei unser Ziel. Immer Dein Otl.« Das Pathos war dem überschwänglichen Gefühl geschuldet, aber ebenso der Theologie des Kirchenvaters Augustinus, der für Otl Aicher die oberste geistliche Instanz bedeutete. Augustinus war an der Wende vom vierten zum fünften Jahrhundert Bischof im nordafrikanischen Hippo und hat, wie kaum eine andere theologische Autorität in der Kirchengeschichte, das christliche Menschenbild und das Verhältnis der Christen zur Sexualität geprägt.
Die »Bekenntnisse« des Augustinus, ein Bestseller quer durch die Jahrhunderte, zeigen einen Mann, der die Sexualität als eine Kraft erlebte, die ihn so prägte, dass sie geradezu zur Obsession wurde, nachdem er sie mit dreiunddreißig Jahren – nach seiner Bekehrung zum Christenum – radikal aus seinem Leben verbannt hatte. Mit siebzehn Jahren hatte Augustinus seine erste sexuelle Beziehung zu einer Frau, mit achtzehn Jahren wurde er Vater und trennte sich erst Jahre später von der Mutter seines Sohnes, weil er die ständigen Tränen und Vorwürfe seiner eigenen Mutter nicht mehr ertragen konnte. Zur vollständigen Kehrtwende in seinem Leben nach der Bekehrung zum Christentum gehört die radikale Absage gelebter Sexualität in der Beziehung zu einem anderen Menschen. Damit die Gläubigen sein rigoroses Christentum auch im Alltag, im Zusammensein mit anderen Menschen praktizieren können, findet der Bischof eine geniale Lösung: »Wenn dir Körper gefallen, lobe Gott um ihretwillen und kehre deine Liebe zu dem, der sie kunstvoll gestaltete, zu … Wenn dir Seelen gefallen, sollen sie in Gott geliebt werden … In ihm sollen sie also geliebt werden; zu ihm zieh mit dir, so viele du kannst, und sag ihnen: Lasst uns ihn lieben.«
Die Ähnlichkeit mit Sophie Scholls Formulierungen ist verblüffend. Ihre Liebe über Gott umzuleiten, um sie zu vergeistigen und den Wünschen des Körpers den Weg zu versperren: unter dieser Bedingung hatte sie Ende Oktober 1940 Fritz Hartnagel einen Neu-Anfang vorgeschlagen: »Denn die Fäden der Beziehung laufen nicht mehr zwischen Dir und mir, sondern zwischen uns und etwas höherem. Und dieser Zusammenhang ist doch der bessere.« Sophie Scholls neue Definition von Liebe orientiert sich offensichtlich am Kirchenvater Augustinus – und nicht weniger augenfällig an der Liebe, zu der sich Otl Aicher gegenüber Ernst Reden als Ideal bekennt. In seinen Briefen an ihn wird sie erstmals fassbar.
Dass Augustinus der Leitstern für den jungen Aicher ist, daran besteht kein Zweifel; ebenso wenig daran, dass Otl Aicher seine geistlichen Schätze und seine Vorbilder aus der Glaubenswelt des Katholizismus zunehmend in den Freundschaftsbund mit
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