Sophie Scholl
Klärung im guten Sinn verflogen. Fritz Hartnagel gibt auf und wird, für seine Verhältnisse, Ende August ungewöhnlich deutlich. Er habe »das sehnlichste Bedürfnis«, dass Klarheit zwischen ihnen herrsche. Seit zwei Jahren laste eine drückende Ungewissheit auf ihm. Ginge es nach ihren Worten, sei alles schon oft klar gewesen, wenn er aber dann daran denke, »wie wir uns damals am Gartenzaun bei mir zu Hause verabschiedet haben, dann ist mir wieder alles unklar. Aber dieses ewige ›himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt‹ macht müde. Und ich bin schon sehr müde geworden in letzter Zeit«. Der Vorwurf an Sophie Scholl, sie lasse ihre eigene innere Zwiespältigkeit an ihm aus, ist unüberhörbar.
Der Brief traf Sophie Scholl, die doch immer »gerade« sein wollte, tief: »Einen Augenblick hätte ich mich direkt gehen lassen mögen und heulen. … Verzeih, wenn ich Dich nicht zur Ruhe und Klarheit kommen lasse. Nun erst sehe ich, wie viel ich an Dir gefehlt habe.« Es ist der 5. September 1940. Sechs Tage später endet ihr Praktikum in Bad Dürrheim, und sie fährt direkt nach Leonberg zu Lisa Remppis, um sich zu erholen. Ein wichtiges Thema zwischen den Freundinnen wird ihre Beziehung zu Fritz gewesen sein. Am 16. September ist sie wieder daheim und radelt ins Fröbel-Seminar nach Ulm-Söflingen. Am 17. legt Sophie Scholl in ihrem Brief an Fritz Hartnagel alle Karten auf den Tisch. Es geht ihr um ein Experiment mit sich selber, um einen Neuanfang, der zugleich ihre Beziehung zu Fritz Hartnagel auf den Prüfstand stellt.
Der Ton des Briefes hebt sich ab von den vorangegangenen harten Tönen. Am Anfang steht ein Satz, der nochmals indirekt um Vergebung bittet: »Mein lieber Fritz, ich mache Dir wohl oft sehr dunkel?« Weiter geht es mit indirekter Selbstkritik, als sie anmerkt, sie sei in Bad Dürrheim zum ersten Mal in ihrem Leben allein auf sich selbst gestellt gewesen: »Wie leicht konnte ich alles ertragen, weil ich meine Eltern und Geschwister, diesen warmen Kreis, immer als schönen Boden wusste, auf dem ich stand.« Auf einen solchen Boden, Sophie Scholl kennt den familiären Hintergrund von Fritz Hartnagel, konnte Fritz niemals in seinem Leben setzen. Aber für Sophie Scholl ist gerade aus dieser positiven Ausgangslage, die ihr Leben heiter macht, ein Problem erwachsen. Sie habe, schreibt sie ihm, »immer größere Sehnsucht bekommen nach einem Grund, der mir immer ist, unabhängig von jeglichen Einflüssen. Dann erst könnte man die wahre Heiterkeit besitzen. So aber fühle ich mich manchmal verlassen«. So paradox es klingt: Das Urvertrauen, mit dem Sophie Scholl aufwuchs, hat sich in sein Gegenteil verkehrt. So jedenfalls empfindet sie es – und will es ändern.
Nach fünf Monaten eines langen, teils quälenden Briefwechsels schließt sich der Kreis. Die verschiedenen Ebenen ihrer Briefe verbinden sich zu einem sichtbaren Ganzen. Auslöser ist der Krieg. Er hat Sophie Scholl schlagartig bewusst gemacht: Das Böse hat endgültig die Herrschaft übernommen, in Deutschland und bald in ganz Europa. Wer Recht von Unrecht unterscheiden kann, darf nicht mehr abseits stehen. Er darf nicht nach dem Motto handeln, Hauptsache ich komme mit dem Leben davon – oder die Menschen, die ich liebe. Bisher hat sie sich verhalten wie alle in der Masse der Menschen, denen es nur um den eigenen Nutzen geht. Ende Mai hatte sie Fritz Hartnagel geschrieben: »Diese Masse ist so überwältigend, und man muss schon schlecht sein, um überhaupt am Leben zu bleiben.« In diesem Sinn versteht sich Sophie Scholl als »schlechten Menschen«. Wäre sie gut, würde sie im Kampf gegen dieses verbrecherische System ihr Leben riskieren.
Der »warme Kreis der Familie« bindet sie mit tausend Gefühlen. Wenn Sophie Scholl nach ihren eigenen Maßstäben leben und handeln will, muss sie frei und unabhängig sein. Vor allem von Gefühlen, denn die sind letztlich schwankend, wandelbar; sie machen abhängig und verpflichten. Und sie muss sich eine neue Kraftquelle suchen, wenn sie einen Weg einschlägt, der gegen die Mehrheit der Menschen verläuft. Was die Familie für sie bedeutete, war Sophie für Fritz Hartnagel – der feste sichere Boden: »Ich habe Dir wohl ein bisschen den Boden genommen, der Dir Kraft geben sollte, den Trübsinn der täglichen Erlebnisse zu überwinden?« Sie hofft auf sein Verständnis, dass sie bei ihm mit gleicher Härte vorgeht wie bei sich selbst: Sie will ihm nicht mehr als Boden dienen. Er soll sich einen
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