Sophie Scholl
muss ich nicht ein Einsiedlerleben anstreben.« Der nächste Absatz bringt eine radikale Steigerung. Eine Freundschaft »aus reiner unbegründeter Zuneigung« könne es für sie nicht geben. Sie kenne »keine Zuneigung oder Liebe oder wie Du sagen willst, zu einem Menschen mehr«. Sofort jedoch nimmt sie die Schärfe heraus: »Nimm es mir nicht übel. Ich glaube, man kann die Menschen auch anders lieben. Dies will ich versuchen.« Schon der Auftakt des Briefes stand im Zeichen einer versöhnlichen Geste. Es sei unnötig, wenn nicht gar falsch von ihr gewesen, eine neue Form für ihr zukünftiges Miteinander zu suchen. Wenn sie Geduld hätten, würde ihnen diese Form eines Tages von selber zufallen.
Bei diesem ausgeglichenen Ton bleibt sie in den folgenden Briefen. Sophie Scholl erzählt unbeschwert vom Ski-Urlaub, von der vielen Arbeit im Seminar, wo im März die Abschlussprüfungen fällig sind. Von einem Violinkonzert, das sie mit Hans Scholl besuchte, um anschließend mit der befreundeten Sängerin Olga Habler noch bis morgens zwei Uhr zusammen zu feiern: »Dies tut mir manchmal auch gut …« Ihr Vater prognostiziert das Kriegsende noch für das laufende Jahr; sie hoffe lieber nicht darauf, um nicht enttäuscht zu werden. Als es heißt, sie müsse wahrscheinlich doch im April zum Arbeitsdienst, fügt sie hinzu: »Etwas daran wird mir gewiss gefallen.« Ihre neue Beziehung ist auf einem guten Weg: »Vielleicht können wir uns noch einmal treffen, bevor es im Frühjahr wieder lebhafter wird? Aber es wird auch so gehen, wenn wir uns bemühen.« Es dauert nur wenige Tage, und ihr Wunsch geht überraschend in Erfüllung. Fritz Hartnagel ist in Ulm und kann für drei Wochen Urlaub machen.
Als es am 21. Februar morgens zurück in die Kaserne geht, wird er von Inge Scholl am Ulmer Bahnhof verabschiedet. Sophie ist ohnehin schon spät dran für den Seminar-Unterricht und mit dem Rad unterwegs nach Söflingen. Und dann noch dieses Malheur, das sie Fritz am gleichen Abend brieflich schildert: »In die Schule kam ich, unsretwegen, eine Viertelstunde zu spät, und musste noch mit dem Rad heimrasen, da ich allerhand wichtiges vergessen hatte. Aber manchmal ist anderes wichtiger.« Im Unterricht sei sie wie aufgedreht gewesen – »frag einen Psychologen was Überkompensation ist, dann hast Du ungefähr meine Stimmung«.
Was sie kompensieren musste: »Alle Tage vorher wartete nach der Schule ein Abend mit Dir auf mich, jetzt nimmer, komisches Gefühl.« Dann meldet sich die »andere« Sophie Scholl: »Ich hatte mich schon zu sehr an Deine Wärme gewöhnt. Das ist auch eine Gefahr.« Um anschließend zu gestehen: Sie hätte gerne etwas von ihm, das sie unauffällig immer bei sich tragen könnte. Auch das bleibt nicht kommentarlos stehen: »Das sind allerdings die ersten heftigen, dem Abschiede entsprungenen, sehr subjektiven Gefühle, die ich selbst nicht einmal alle billigen kann.« Kommt sie da wieder zum Vorschein, die rigorose Sophie Scholl, die Härte zeigen muss?
Nein, sie hat nur noch einmal ihre Vorstellungen benannt, die sie Fritz Hartnagel während des Urlaubs ausführlich darlegte und über die sie Einverständnis erzielen konnten. Er weiß, was gemeint ist. Und damit ist das Thema für Sophie Scholl auch erledigt. Ihr Brief strahlt frohe Zuversicht aus: »Leb Dich gut ein, denk an mich, auch an das, was wir gesprochen haben. Verzeih mir auch alles, was ich Unrechtes an Dir getan habe, auch während Deines Urlaubs.« Und schon geht der Blick in die Zukunft: »Ein Inserat wegen der Hütte wollen wir aufgeben. Ist’s recht?« Fritz Hartnagel musste nach seiner Rückkehr sofort eine Dienstreise nach Münster und Amsterdam antreten. Meistens saß er im Auto und hatte viel Zeit zum Nachdenken. Es war eine schöne Zeit: »Liebe Sofie, ich dank Dir für alles, was du mir in meinem Urlaub gegeben hast, vor allem neuen Mut und Zuversicht.« Er habe an das gedacht, »was wir miteinander gesprochen haben. Ich glaube, wir sind viel weiter gekommen«. Sie sind wieder gemeinsam auf dem Weg, wenn auch auf andere Weise als je zuvor. Dass ist die beglückende Erfahrung, die beide mit in die trennenden Monate genommen haben. Weil sie in ihren Briefen sorgsam miteinander umgehen, sind sie auch mit sich selbst in der Balance. Vorbei ist es mit Sophie Scholls Selbstanklagen – ich bin müde, faul, schlecht –, und Fritz Hartnagel muss sich nicht klein machen.
Es gibt kein Misstrauen mehr, keine Missverständnisse. Das macht frei,
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