Sophie Scholl
Wüstenberg, hatte der wissbegierige jugendliche Otl Aicher entsprechende Lektüre gefunden. Das traf sich bestens mit seiner Begeisterung für Thomas von Aquin, denn die theologischen Vertreter des Renouveau Catholique holten die Vorstellungen des einflussreichen mittelalterlichen Dominikanermönches über Gott und die Welt ins 20. Jahrhundert und positionierten ihn als Stützpfeiler eines »neuen Christentums«.
Keiner war darin unermüdlicher und mit seinen Büchern erfolgreicher als Jacques Maritain. Der Philosophie-Professor konvertierte 1906 mit seiner Frau Raïssa vom Protestantismus zum Katholizismus. Mit seinen Studien zum Thomismus und den sonntäglichen Zusammenkünften in seinem Haus in Meudon bei Paris, wo sich zu literarischen Lesungen, Diskussionen und spiritueller Einkehr das intellektuelle Paris traf, löste Maritain in Frankreich eine Thomas-Renaissance aus. Für Otl Aicher wurde der katholische Philosoph, der unter dem Begriff »Humanisme intégral« eine neue christliche Gesellschaftsordnung entwarf, zum Hausheiligen und zur obersten geistlich-geistigen Autorität.
Mit Freude wird Aicher Hans Scholls Lektüre-Vorschlag »Tagebuch eines Landpfarrers« für die Jahreswende im Schnee zugestimmt haben. Über die französische Schiene weckte er bei den Scholls verstärktes Interesse für die Autoren des Renouveau Catholique, die theologischen Schriften inbegriffen. Wie gut das bei Sophie Scholl funktionierte, zeigt die Bücher-Wunschliste, die sie am 21. Februar 1941 an Fritz Hartnagel schickt. Er liegt mit seiner Einheit immer noch an der französischen Kanalküste bei Calais und soll in den Buchläden nach folgenden Autoren suchen: Paul Claudel, Francis Jammes, Georges Bernanos, Sertillanges. Der französische Dominikanermönch Antonin-Gilbert Sertillanges (1883–1948), Professor für Moralphilosophie, gehört zu den führenden »Thomisten« des 20. Jahrhunderts, die Thomas von Aquin als einen Lebensführer durch die Wirren und Bedrängnisse der modernen Zeit deuteten.
Sophie, Inge, Hans und Werner Scholl wussten damals sicherlich nicht, dass der Theologe Sertillanges, aber ebenso Schriftsteller wie Bernanos und Claudel mit dem Anspruch Maritains übereinstimmten, in dem erstrebten »neuen Christentum« sei für die protestantischen Kirchen kein Platz: »Es gibt nur eine integrale religiöse Wahrheit, es gibt nur eine katholische Kirche.« Sie konnten auch nicht ahnen, dass Maritain dem größten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, der dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine fundierte theologische Grundlage gab, einen »primitiven Protestantismus« vorwarf. Dafür wird der Schluss vom »Tagebuch eines Landpfarrers« dem protestantischen Glaubensverständnis der Scholl-Geschwister sehr vertraut gewesen sein. Der schwerkranke Landpfarrer, der das Böse als eine mächtige und reale Kraft in der Welt erlebte und mit Gebet und Demut bekämpfte, nimmt alle Kraft zusammen, um mit seinen letzten Worten die Summe seines Lebens und Sterbens zu ziehen: »Alles ist Gnade.« Martin Luther hätte es nicht besser sagen können.
Am 27. Februar trägt Inge Scholl in ihr Tagebuch ein: »Il faut avoir l’esprit dur et le cœur tendre«, eine Formel, auf die man sein Leben bringen sollte. »Man muss einen harten Geist und ein weiches, zärtliches Herz haben« – Otl Aicher hatte diese Formel bei Jacques Maritain gefunden und als Wegweiser ausgegeben. Bei der Scholl-Familie galt der Goethe-Vers »Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten« als interner Code. Das Maritain-Motto wurde zum Fixstern, zum Mantra des Aicher-Scholl-Bundes, der im Frühjahr 1940 die entscheidenden Schritte in eine Richtung nahm, die der achtzehnjährige katholische Aicher den protestantischen Scholl-Geschwistern vorgab. Harter Geist und weiches Herz – es war eine Formel für das politische wie das private Leben. Mit Härte dem Bösen der Zeit widerstehen, ohne zu verhärten. Hartnäckig nach der geistigen Wahrheit suchen, dabei sich und andere nicht schonen. Auch für Sophie Scholls persönliche Lebenssituation war das Motto wie gemacht: Mit Beginn des neuen Jahres predigte sie Fritz Hartnagel wiederum Härte, ohne deshalb ihre Beziehung »als Menschen« aufgeben zu wollen.
Ihre ganze Liebe an einen Menschen zu hängen oder »vielmehr mich ganz mit ihm zu teilen, das bringe ich jetzt nicht fertig«, schreibt sie ihm am 6. Januar 1941. Um versöhnend hinzu zu fügen: »Ist es denn nötig? – Deshalb
Weitere Kostenlose Bücher