Sophie Scholl
können wir uns ganz dem widmen, um was es uns eigentlich geht.« Die Forderung aus dem Rilke-Gedicht, die Sophie Scholl schon als Schülerin imponierte – »Du musst dein Leben ändern« –, hat Fritz Hartnagel bereitwillig und sensibel angenommen.
Das geistige Neuland, das er betritt, ist ihm fremd. Aus protestantischem Hause, ohne sonderlich gläubig zu sein, verlässt sich Fritz Hartnagel auf Sophie Scholls Lektüre-Empfehlungen. Am 16. März meldet er ihr seine Bucheinkäufe: »Der Mensch im Denken der Zeit von Hans Pfeil, die Bekehrung des Aurelius Augustinus von Romano Guardini, dann ein Buch von Thomas von Aquin …« Katholischer geht es nicht, wobei Pfeil und Guardini zu den Theologen gehören, die seit den zwanziger Jahren eine Reform der katholischen Kirche und eine Öffnung hin zur modernen Welt fordern. Vielleicht ist das bisherige Desinteresse Fritz Hartnagels in religiösen Dingen ein Vorteil: Der Protestant hegt keine Abneigungen gegenüber dem Katholizismus. Vorsichtig schreibt er über seine neuen Erfahrungen: »Mir ist es, als wollte ich ein in lauter kleine Stückchen zerrissenes Blatt Papier wieder zusammensetzen …« Aber eines Tages, davon ist er überzeugt, wird er das ganze Blatt vor sich sehen. Den Tag beendet er mit Gedanken an Sophie Scholl. Sie führen ihn fort aus seinem Soldatenleben in eine andere Welt, eine Welt, die von ihr ausging. Für Fritz Hartnagel ein schöner, ein tröstlicher Gedanke.
Wohin Fritz Hartnagel geführt werden soll, nimmt ein wenig Konturen an durch einen Brief vom 1. April, in dem Sophie Scholl ihrer Freundin Lisa zu erklären sucht, was sich in ihrer Beziehung – neben dem Verzicht auf »Sinnliches« – verändert hat. Zum einen stehe Fritz »am Anfang einer neuen Erkenntnis«, die folgenschwer für seinen Beruf sei. Sie hätte es als »Unrecht und scheußlichen Egoismus angesehen«, ihn in diesem Umdenkungsprozess allein zu lassen. Eine zweite Entwicklung jedoch ist mindestens so folgenschwer: »Du bist zu wenig verbunden, um so ganz zu erkennen, womit wir gerade beschäftigt sind, das heißt Inge, Has und ich. Aber aus dem Winterlager wirst Du es so etwa ersehen haben. Und dass Otl dabei nicht wegzudenken ist, weißt du auch. Es ist sehr schade, dass Du nicht bei uns bist. Du könntest mich ganz anders verstehen.«
Die Geschwister Inge, Werner (Spitzname Has) und Sophie Scholl, die noch zu Hause leben, und Otl Aicher, der inzwischen jeden Tag in die Wohnung am Münsterplatz kommt, haben sich einem gemeinsamen geistigen Projekt verpflichtet: sich den radikalen Glauben des »Landpfarrers« für ihr Leben zu erschließen, und in dieser Anstrengung fühlen sie sich auf eine besondere Weise verbunden. Ihr geistiger Anführer ist Otl Aicher. Ihn prädestiniert zu dieser Rolle, dass er schon besitzt, was die anderen Drei erstreben: einen festen Glauben – in der katholischen Kirche verankert; ein großes Wissen, bei wem die Wahrheit auf die vielen Fragen, die am Weg auftauchen, zu finden ist; eine Glaubwürdigkeit, nicht mit den bösen Mächten dieser Zeit zu paktieren, die alle Scholl-Geschwister mit Hochachtung erfüllen muss und mit Scham, wenn sie an ihre langjährigen Aktivitäten im Zeichen des Hakenkreuzes denken. (Unerklärlich wie die Jahre zuvor: Die bald zwanzigjährige Sophie Scholl ging bis zum März 1941, als sie ihre Kindergärtnerinnen-Ausbildung beendete, regelmäßig in die wöchentlichen BDM-Abende.)
Otl Aicher hält sich seit dem Februar 1941 mehr denn je bei den Scholls am Münsterplatz auf. »Du kannst Dir denken, welchen Staub die Sache aufgewirbelt hat, aber trotzdem habe ich meine Freude und auch meinen Stolz behalten, es war nur schwer diesen Stolz immer in Gott verankert zu wissen«, schreibt er am 4. Februar 1941 an Willi Habermann. Die Sache: Weil er sich weiterhin weigert, in die HJ einzutreten, wird er vom Abitur ausgeschlossen, das im Frühjahr 1941 anstand. Aichers Eltern, denen es gelungen war, in keine einzige nationalsozialistische Organisation einzutreten, baten ihn flehentlich, »irgendwo einzutreten«, um seine Zukunft nicht zu verbauen. »Nein«, war die Antwort, »lieber klopfe ich Steine von Söflingen nach Ehrenstein.« In ihrer Not gingen die Eltern dorthin, wo ihr Sohn längst zu Hause war: zu Robert und Lina Scholl am Münsterplatz, und baten um Unterstützung. Doch was die einen unglücklich machte, war für die anderen eine Auszeichnung. »Seien Sie doch stolz auf so einen Sohn«, bekamen die Aichers von
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