Sophie Scholl
lässt sie keineswegs verzweifeln. Denn auch wenn es keine eindeutige Antwort gibt, gilt für Sophie Scholl im Oktober 1942: »Warum sollte ich an einer Wahrheit zweifeln, bloß weil sie mir noch verborgen ist?« Das Denken hat Vorrang vor den Gefühlen. Alle Überlegungen Sophie Scholls im Sommer und Herbst 1942 gehen von einer Gewissheit aus, die Verzweiflung nicht zulässt. Auch in einem langen Brief, der Fritz Hartnagel Ende Oktober Mut machen soll, taucht jene Vision wieder auf, die Sophie Scholl seit dem Frühjahr mehrfach beschworen hat: auf Seiten der Sieger zu sein. Der Brief ist eine Kostbarkeit; einer der wenigen Sophie Scholls, die sich aus diesen Monaten erhalten haben. Er wurde an die Absenderin zurückgeschickt, weil er Fritz Hartnagel in den Kriegswirren an der Ostfront nicht erreichte.
Sophie Scholl geht in diesem Brief auf eine Diskussion ein, von der Fritz Hartnagel ihr berichtet und die ihn deprimiert hatte. Im Offizierskasino an der russischen Front brüsteten sich seine Kollegen mit der nationalsozialistischen Parole, dass der Sieg des Stärkeren über den Schwächeren ein Naturgesetz sei und dass nur aus dem Tod Leben entstehen könne. Um dieses »Gesetz« – »schrecklich und entartet« – zu widerlegen, verweist Sophie Scholl auf den Brief des Apostels Paulus an die christliche Gemeinde in Rom. Ihr geht das Herz auf vor Begeisterung: »Fritz, lies dieses Kapitel unbedingt selbst durch, nach diesem Brief, oder jetzt gleich. Und lies den herrlichen Satz zu Beginn: Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.« Sophie Scholl hat fast Mitleid mit ihren Gegnern: »Sind jene nicht arm, entsetzlich arm, die dies nicht wissen und glauben?« Dann dreht sie die Argumentation um: »Ja, wir glauben auch an den Sieg des Stärkeren, aber der Stärkere im Geiste.« Es folgt die Vision, dass dieser Sieg sich in einer »anderen als unserer Welt« durchsetzt – doch im gleichen Atemzug korrigiert Sophie Scholl sich: »… nein, dies wird er hier schon …«
Argument wird auf Argument gehäuft, um die staatstragende Ideologie zu widerlegen und auf dem Höhepunkt wieder das Private mit dem Politischen zu verbinden: »O, wie wirst Du aufatmen, wenn dies alles hinter Dir ist, wie werden wir alle aufatmen, wenn es soweit ist. Es wird nicht mehr zu lange dauern. Bekommst Du an Weihnachten wohl Urlaub? … Ich würde mich ja sehr freuen.« An Urlaub zu denken war allerdings optimistisch. Aber aus Sophie Scholls Worten sprach innerste Überzeugung. Bald wird der Alptraum, diese menschenverachtende Zeit, hinter uns liegen. Diese Gewissheit ist der Schlussstein in Sophie Scholls Überlegungen, der alles zusammenhält und eine Tat des Widerstands rechtfertigt, ja notwendig macht.
Werner Scholl war in Russland auf einem Hauptverbandsplatz als Sanitäter eingesetzt, und der Zufall wollte es, dass er dort im August seinen Bruder Hans traf. Fast ein Jahr später, im Juni 1943, schrieb Werner Scholl seinen Eltern, wie Hans ihn über die Verurteilung des Vaters informierte, ihm die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Du darfst das, auch wenn es ernst ist, nicht zu schwer nehmen, es geht das nur seine Zeit lang. Wir sind das unserer Haltung schuldig, dass wir das leichter ertragen als die andern.«
Am 5. Oktober bekam Lina Scholl vom Vorstand des Strafgefängnisses Briefe zurück, die sie und Inge Scholl an Robert Scholl geschrieben hatten. Derartig »zusammengedrängte Briefe« seien nicht zulässig: »Der Zensurbeamte hat noch anderes zu tun, als solch schwer leserlich geschriebene Briefe zu entziffern.« Zurück ging auch die »Frankfurter Zeitung« – »wird nicht mehr zugelassen«. Lina Scholl war eine kluge und mutige Frau. Sie versuchte, in ihrer Antwort das verhasste System mit seinen eigenen Waffen zu schlagen; ihren Mann nicht weiteren Schikanen im Gefängnis auszusetzen, aber auch, sich nicht schweigend allem zu beugen. Ihre Tochter bitte um Entschuldigung wegen der unvorschriftsmäßigen Zeilen, antwortete sie am 7. dem Herrn Amtmann. »Es ist mir jedoch unverständlich, dass Sie nun meinen Mann für die Ungeschicklichkeit der Tochter büßen lassen, indem Sie ihm die FZ, die zu seiner Fachliteratur gehört, entziehen lassen.« Er könne doch nicht rückgängig machen, was er beim Gefängnisantritt freiwillig gewährt habe – »es sei denn auf höhern Befehl«. Das war eine kalkulierte Drohung, der gleich die
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