Sophie Scholl
Fritz Hartnagel klar, dass er einen weiteren Winter in Russland bleiben muss. Beim Planen der Quartiere kommt er bis Stalingrad: »Es war wohl der erschütterndste Eindruck von Elend und Trostlosigkeit, den ich in diesem Feldzug gewonnen habe.« Tausende von Flüchtlingen, alte Männer, Frauen und kleine Kinder, ohne Unterkunft, ohne irgendetwas zum Essen. Das Holz, das die deutschen Soldaten dringend zum Bauen von Unterkünften brauchen, ist längst abgebrannt. Am 16. September schreibt er Sophie Scholl, was im Nachhinein prophetische Worte sind: »Unser Schicksal hat sich nun schon mit ziemlicher Sicherheit entschieden. … Wahrscheinlich bleiben wir in der Gegend von Stalingrad. Ich hab mich schon einigermaßen damit abgefunden.« Als Lina Scholl ihn um ein Gnadengesuch für Robert Scholl bittet, damit er nicht vier Monate absitzen muss, schickt Fritz Hartnagel es umgehend mit Luftpost an Sophie Scholl: »Vier Monate ist eine lange Zeit, wenn ich mir vorstelle, dass es gerade heute vier Monate sind, dass ich von Dir Abschied nehmen musste.« Die ungeschminkten Briefe von der Front im Osten müssen Sophie Scholls Überzeugung gefestigt haben, dass der Krieg seinem Ende zugeht und die Niederlage die braunen Machthaber von ihren Thronen fegen wird.
Während die Briefe des kriegserfahrenen Fritz Hartnagel, ungeachtet der ziemlich hoffnungslosen Umstände, Zuversicht ausstrahlen, waren die Briefe, die Werner Scholl aus Russland nach Hause schickte, bedrückend. »Es sitzt mir seit Tagen eine ganze müde Stumpfsinnigkeit in den Gliedern und draußen regnet es unaufhörlich. Ich bin so verzagt«, schreibt der Zwanzigjährige am 18. September an Sophie Scholl. Er reagiert auf die Freiheitsbeschneidung des Soldatenlebens mit »Hassausbrüchen«, mit »körperlichem Ekel«. Für Werner Scholl gibt es nur einen Lichtblick, den »großen Tröster«, der alles Ungemach »durch ein überirdisches Licht tausendmal aufgehoben« hat. Er schließt: »Das sollte unser einziger Stolz sein, dass wir uns seine Kinder heißen dürfen.« Als der Brief in Ulm ankam, war Sophie Scholl von den Zwängen des Krieges wieder befreit. Unerwartet endete ihre Arbeit in der Schraubenfabrik schon nach vier Wochen am 19. September 1942. Jetzt hatte sie frei bis zum Semesteranfang im November.
In der letzten Septemberwoche legt Sophie Scholl dem Brief der Mutter an den Vater ins Gefängnis ein paar Zeilen bei. Sie plant, im Oktober mit Schwester Liesl nach München zu fahren und Professor Muth in Solln ein wenig zu helfen. Danach wollen die beiden in ein verlassenes Bauernhaus im Bregenzer Wald fahren, »um an der Ordnung der Natur ein Gegengewicht für all das Schreckliche, das geschieht, zu finden«. Nicht umsonst liebt Sophie Scholl die Berge ganz besonders: »Beim Anblick der stillen Großartigkeit dieser Berge und ihrer Schönheit wollen einem die Gründe, die die Menschen für ihre unheilvollen Taten vorbringen, lächerlich und verrückt erscheinen, und man bekommt den Eindruck, sie wären gar nicht mehr Herr über sich und ihre Taten, sondern würden von einer bösen Macht getrieben.« Die Natur, vor allem im Gebirge, hält für Sophie Scholl einen großen Trost bereit: »Beim Anblick aber eines Abendhimmels über den Bergen und bei dem sanften Klang der Glocken erhebt sich ein andres Menschenbild vor mir.«
Zwei Wochen später, am 10. Oktober, sitzt Sophie Scholl im Garten hinter dem Häuschen von Carl Muth, staunt mit »sprachlosem Herzen« über die herbstliche Pracht und findet es »beinahe furchterregend, dass alles so schön ist. Trotz des Schrecklichen, das geschieht«. In ihrem Brief an Lisa Remppis bekennt sie, dass sich in ihre Freude an allem Schönen etwas Unbekanntes dränge, »eine Ahnung nämlich von einem Schöpfer«. Ihn preisen die »unschuldigen erschaffenen Kreaturen mit ihrer Schönheit«. Der Mensch allein könne hässlich sein, »weil er den freien Willen hat, sich von diesem Lobgesang abzusondern«. Dann kommt Sophie Scholl auf eine Idee zu sprechen, an der sie, leicht variiert, schon im Frühjahr Gefallen gefunden hat. Man könnte meinen, schreibt sie im Herbst 1942, der Mensch brächte es jetzt fertig, den Gesang der Natur zum Lobe Gottes »zu überbrüllen mit Kanonendonner und Flüchen und Lästern«. Aber sie hat eine tröstliche Botschaft: »Doch dies ist mir im letzten Frühling aufgegangen, er kann es nicht, und ich will versuchen, mich auf die Seite der Sieger zu schlagen.« Sophie Scholl spricht es nicht
Weitere Kostenlose Bücher