Sophie Scholl
unantastbare Freuden besitze. Wenn ich daran denke, fließt mir Kraft zu, und ich möchte allen, die ähnlich niedergedrückt sind, ein aufrichtiges Wort zurufen.« Es ist eine Kraft, die zu Taten führt. Mit der Rückkehr des Bruders am 7. November muss Sophie Scholl darüber nicht mehr alleine nachdenken.
Wieder zu Hause in Ulm, wird Hans Scholl erst einmal von Russland erzählt haben, von der Ambivalenz der Gefühle, denen er dort ausgeliefert war. Die unermessliche Weite des Landes bedeutete ihm Aufbruch aus der Enge des alten Europa und ließ ihn zugleich spüren, wie sehr er in der abendländischen Kultur verwurzelt war. Tiefe Schwermut wurde abgelöst von befreienden religiösen Erfahrungen. Als Hans Scholl von der Verurteilung des Vaters erfuhr, hatte er nach Hause geschrieben: »Ich glaube an die unermessliche Kraft des Leides. Das echte Leid ist wie ein Bad, aus dem der Mensch neu geboren hervorgeht. … Wird nicht Christus stündlich tausendfach gekreuzigt? Und werden die Bettler und Kranken nicht heute wie immer von allen Schwellen verstoßen? Dass die Menschen gerade das nicht sehen, was sie zu Menschen macht: die Hilflosigkeit, das Elend, die Armut.« Hans Scholl und seine Münchner Kommilitonen waren in Sanitätslazaretten, etwa zehn Kilometer hinter der Front, eingesetzt. Das Elend der Bevölkerung und die unmenschliche Behandlung der russischen Gefangenen durch ihre deutschen Bewacher waren schrecklich genug. Aber sie sahen keine Deportationen, und Kampferfahrungen wie Fritz Hartnagel machten sie nicht. Aber sie sahen sich durch die Alltags-Erlebnisse in Russland in der Verachtung eines Systems bestätigt, das zwischen Menschen und Untermenschen unterschied und die Welt unter sein Joch zwingen wollte. Die Bereitschaft zu weiteren Widerstand-Aktionen festigte sich; neue Pläne jedoch wurden in Russland nicht geschmiedet.
Sophie Scholl wird ihren Bruder umgehend informiert haben, dass sie Hans Hirzel als aktiven Ulmer Außenposten gewonnen hatte. Hätte Hans Scholl das Vorgehen seiner Schwester missbilligt: ein Gespräch mit Hirzel und die Angelegenheit wäre problemlos wieder aus der Welt geschafft gewesen. Stattdessen sind mit der Rückkehr von Hans Scholl nach Ulm Aktivitäten zu verzeichnen, die auf Pläne schließen lassen, dass man den Widerstand über München hinaus tragen und Kontakt zu anderen ähnlich gesinnten Gruppen aufnehmen will.
Am 14. November fahren Hans Scholl und Alexander Schmorell nach Chemnitz. Dort treffen sie Falk Harnack. Der promovierte Theaterwissenschaftler arbeitete als Spielleiter am Nationaltheater in Weimar; seit 1941 Soldat, war er nach Einsätzen in Griechenland in Chemnitz stationiert. Der neunundzwanzigjährige Harnack war eng befreundet mit einer Münchner Freundin von Alexander Schmorell. Sie wird den Kontakt hergestellt und Schmorell erzählt haben, dass Harnacks älterer Bruder Arvid einer Widerstandsorganisation angehörte. Sie war im August 1942 von der Gestapo aufgedeckt worden, und 117 Verhaftete warteten in Berlin auf ihren Prozess. (Es war die Gruppe Harnack–Schulze–Boysen, von der Gestapo als »Rote Kapelle« etikettiert, obwohl unter den Mitgliedern sehr unterschiedliche politische Richtungen vertreten waren. 46 von ihnen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet; Arvid Harnack und seine Frau am 22. Dezember 1942.) Der Termin in Chemnitz verlief für die beiden Studenten enttäuschend. Sie hatten Falk Harnack gemeinsame Aktionen vorgeschlagen, darunter die Herstellung von Flugblättern. Er lehnte ab. Man verabschiedete sich, ohne weitere Abreden zu treffen. Vielleicht sind Hans Scholl und Alexander Schmorell direkt nach Ulm weitergefahren. Am 19. November schreibt Sophie Scholl an Lisa Remppis, »Alex« sei bei ihnen, mit seinem strahlendem Lächeln, seinem »Kinderherz«. Daneben hat sie eine schlechte Nachricht: Ihrem Vater sei heute verboten worden, seinen Beruf weiter auszuüben.
Das Schreiben des Oberfinanzpräsidenten von Württemberg an Robert Scholl verschanzt sich hinter der Partei: »Die NSDAP hat Ihnen die politische Zuverlässigkeit abgesprochen – Ich nehme daher die Zulassung als Steuerberater zurück.« Als Grund nennt das Schreiben, Robert Scholl habe »gehässige, hetzerische Äußerungen über leitende Persönlichkeiten gemacht«. Robert Scholl weiß, dass er in diesem Staat kein Recht bekommen wird. Aber ganz ohne Widerworte will er das Unrecht nicht akzeptieren. Erst am 29. Dezember 1942 schickt er die Zulassungsurkunde
Weitere Kostenlose Bücher