Sophie Scholl
aus, aber dahinter steht: Es muss Menschen geben, die für diesen Glauben, der auch ein anderes Menschenbild umfasst als das der Nationalsozialisten, eintreten. Und was muss man fürchten, wenn man weiß, auf der Seite der Sieger zu sein?
Am 7. Oktober durfte Lina Scholl ihrem Mann wieder ins Gefängnis schreiben. Sie dankte ihm für seinen letzten Brief, »zur Zeit ist er bei Sofie in München«. Es gebe viel zu tun bei Herrn Professor Muth. Er sei sehr herzleidend, es gebe viele Besuche und Telefongespräche und seine Haushälterin renne dauernd in die Stadt. Liesl Scholl helfe kurzfristig bei einer bekannten Familie, wo im nächsten Monat das sechste Kind ankomme. Deshalb müsse ihre Fahrt mit Sophie in den Bregenzer Wald ausfallen. Die gibt nicht auf, Liesl zu überreden und schreibt am 13. Oktober eine Kunstkarte von Cézanne aus Solln: »Eben kam Mutters Doppelbrief. Sag ihr bitte meinen herzlichsten Dank, ich bin sehr froh darüber, ich war ganz leergebrannt. Willst du nicht doch noch ein paar Tage kommen? Ich habe noch eine ganze Woche zu tun.« Es wird ein neues Gefühl für Sophie Scholl gewesen sein, allein durch München zu streifen und in der Stadt jene Ruhe zu finden, nach der sie sich während des Semesters manchmal gesehnt hatte.
Einmal während der Arbeit bei Carl Muth ging sie ins nahe Harlaching, um im Zimmer von Alexander – Schurik – Schmorell nach Büchern zu sehen. Alexander Schmorell tat seit dem 23. Juli mit Hans Scholl und anderen Medizinstudenten in Lazaretten im Osten Dienst. Anfang August hatte Sophie Scholl in Ulm eine Seite aus ihrem Tagebuch gerissen, »weil sie von Schurik handelte«. Das empfand sie aber sogleich als zu dramatisch und fügte gelassen hinzu, sie werde Gott bitten, ihm den richtigen Platz in ihrem Herzen zuzuweisen. Nachdem sie am 10. Oktober morgens in der Schmorell-Villa war, reagierte sie am Abend bei der Eintragung ins Tagebuch wesentlich heftiger. Vor Monaten habe sie gedacht, ihre Zuneigung zu Alexander Schmorell sei größer als zu manchem anderen gewesen. Nun ekelte Sophie Scholl sich vor sich selbst: »Aber wie verlogen war dieser Wahn von Anfang an.« Ihre Eitelkeit habe sie verleitet, einen Menschen besitzen zu wollen, der bei anderen in hohem Ansehen stand. Jetzt motiviert sie ihr persönliches Versagen zur Umkehr: »Ich wünsche die Möglichkeit herbei, um mich anders zu bewähren.«
Ihre Gedanken scheinen ständig auf einer anderen Ebene zu kreisen, um das Private mit dem großen Ganzen zu verbinden. Sie kann den Anblick der schönen Natur, von der sie in Solln umgeben ist, nicht freudig genießen. Er erfülle sie mit sanfter Traurigkeit, schreibt Sophie Scholl ins Tagebuch, denn für sie ist es »ein unschuldiges Hineingezogenwerden in eine Schuld, in meine Schuld.« Susanne Hirzel ist ein Satz von Sophie Scholl vor allen anderen im Gedächtnis geblieben: »Ich will nicht schuldig werden.«
Einen radikalen Entschluss gefasst zu haben, schließt nicht aus, dass sich Ängste und Alpträume einstellen. In den Schrecken, die sich vor Sophie Scholl auftun, und den verzweifelten Fragen, auf die sie keine Antwort weiß, gibt es keine Trennung zwischen innen und außen, zwischen dem Privatem und dem Politischen im weitesten Sinn. Für Sophie Scholl sind ihr persönliches Heil und ihre Gott-Suche verwoben mit dem Schicksal der anderen. Am 9. Oktober, während sie noch in Solln bei Carl Muth aushilft, geht es in ihrem Brief an Otl Aicher um ungelöste Fragen, die Himmel und Hölle betreffen. Die Aussage von Theodor Haecker, dass »im Himmel und in der Seligkeit alle Tragik gelöst« sei, kann sie nachvollziehen: »Nur – warum ist in der Hölle alle Tragik gelöst? Wie kann ich glücklich sein, wenn ich Brüder unglücklich weiß.« Es geht ihr ein Satz aus dem »Tagebuch eines Landpfarrers«, das der Aicher-Scholl-Bund zum Jahreswechsel 1940/41 auf einer Ski-Hütte gelesen hatte, durch den Kopf: »Die ewige Verdammnis ist das Nicht-mehr-lieben-Können.« – »Vielleicht«, fragt sie Otl Aicher, »ist es auch das Nicht-mehr-geliebt-Werden?« Für sie sei diese Frage »schrecklich und ausweglos, vielleicht kann die Antwort darauf nur geglaubt werden – weil die Hölle ein ebenso großes Geheimnis ist wie der Himmel«.
Fast abrupt beendet sie das Thema, als ob sie genug von sich preisgegeben hätte: »Ich merke, dass mein Brief aus lauter ›Vielleicht‹ besteht. Kannst Du mir helfen, dieses Vielleicht zu beseitigen?« Doch diese »schreckliche Frage«
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