Sophie Scholl
Forchtenberg saßen in den Klassen nicht nur die Jahrgänge, sondern ebenso Jungen und Mädchen zusammen. Wie die Jahre zuvor hatte Sophie Scholl keine Probleme mit der Schule und war auch in Ludwigsburg bald die Beste ihrer Klasse. Insbesondere ihre Aufsätze und ihre Zeichnungen lagen über dem Durchschnitt.
Im vierten Schuljahr, am 14. Januar 1932, durfte Sophie Scholl das Poesiealbum ihrer Freundin Irene Benz einweihen. Auf das erste Blatt schrieb sie sehr akkurat in deutscher Schrift: »Lass nie den frohen Mut Dir rauben, / Und halte fest an Deinem Glauben / In guten, wie in schlimmen Tagen, / So wirst die Last Du leichter tragen, / Ein fester Stab ist kindlich Gottvertrau’n! – Zur Erinnerung an Deine Sophie Scholl.« Am linken Rand rankt sich ein Zweig den Text entlang, nicht von kindlicher Art, sondern mit sicherer Hand gezeichnet.
Die Kinder bekamen den Vater weniger zu sehen als in den Forchtenberger Zeiten. Oft hielten ihn die Abendkurse nach der Arbeit noch in Stuttgart. Kam er früher nach Ludwigsburg zurück, saß er in seinem Zimmer und lernte weiter. Als Geschäftsführer die Vorgaben und Ideen anderer umzusetzen, behagte Robert Scholl nicht; der Vierzigjährige wollte wieder selbständig arbeiten. Lina Scholl, die im Mai 1931 ihren fünfzigsten Geburtstag feierte, vermisste die Nähe zur Natur. In Ludwigsburg gab es nur die große Wohnung, keinen Garten, keine Terrasse. Den Kindern war es verboten, auf der Straße zu spielen. In der Stadt lebten über 30 000 Menschen – in Forchtenberg rund 850 –, und sie besaß die größte Garnison in Südwestdeutschland. Da ließen die Bürger ihre Kinder nicht vor die Türe, zumal nicht in diesen Zeiten. Im Oktober 1929 war in New York die Börse zusammengebrochen und hatte die deutsche Volkswirtschaft mit in den Abgrund gezogen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg wieder, und die radikalen Parteien am linken wie am rechten Rand versuchten aus der Krise größtmögliches Kapital zu schlagen. Was den Kindern aus Forchtenberg unbekannt war: In Ludwigsburg marschierten mal die Kommunisten, mal die Anhänger Hitlers durch die Straßen, nur zu bereit, Schlägereien zu provozieren.
Eine kleine, ungewöhnliche Entschädigung für die naturgewohnten Scholl-Kinder bot die ehemalige Residenzstadt Ludwigsburg dennoch. Nicht weit von ihrer Wohnung befand sich das ehemalige Jagdschloss Favorite. Nachdem das Königshaus 1918 seinen endgültigen Abschied genommen hatte, stand es den Bürgern der Republik zur Verfügung. Robert Scholl nutzte diese Möglichkeit immer wieder und mietete stundenweise den Schlüssel für Schloss und Park, wo die Kinder sich dann als königliche Hausherren und Hofdamen fühlen konnten. Aber genau genommen war es ein kümmerlicher Ersatz für das, was viele Jahre ihren Tag ausgefüllt hatte. Und weil Ludwigsburg nur eine kurze Episode sein wird und danach eine neue Zeit anbricht, ist es ein guter Augenblick, zurückzuschauen und die Zukunft in diesen Rückblick hineinzunehmen.
Robert Scholl vor dem Schloss in Ludwigsburg, mit Inge, Hans, Elisabeth, Sophie und Werner
Forchtenberg war keine heile Welt gewesen. Von einem Tag auf den anderen verstummte die fröhliche Thilde und lag still im kleinen Sarg. Wenn der Vater brütend beim Mittagstisch saß, wussten die Kinder, dass andere seine Arbeit sabotierten oder ihm den Erfolg neideten. Sophie kränkelte immer wieder, und im Winter 1928 war Hans Scholl nur knapp von einer Eisscholle auf dem Kocher gerettet worden. Und Ernst, den sie in Forchtenberg zurückgelassen hatten: Tauchte bei den Kindern nicht doch manchmal der Gedanke ganz von ferne auf, dass ihn ein dunkles Geheimnis umgab?
Den Mythos von einer heilen Welt haben die Erwachsenen errichtet. Kinder sind nicht für Schonräume gemacht. Sie nehmen die Schwächen der Erwachsenen wahr und dass es am Sonntag anders zugeht als im Alltag. Sophie Scholl musste die Vergangenheit nicht beschönigen und verklären, um zu erkennen, was sie vor allem verloren hatte: die Freiheit – Forchtenberg stand für eine fast grenzenlose Freiheit. Die Freiheit, als Einzelne oder in der Kindergemeinschaft ungefährdet Raum und Zeit zu durchqueren: unter den Bäumen auf warmem Waldboden zu sitzen und die Sonnenflecken zu beobachten, an den Wegen wilde Brombeeren und Hagebutten zu sammeln, den Fluss zu durchschwimmen, auf dem Berg über der Stadt an der Burgruine zu spielen und im Winter von dort mit dem Schlitten durch die abschüssigen Gassen zu sausen. Den Wind
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